Mithilfe eines einfachen Urintests und der anschließenden Bestimmung zweier Blutwerte kann die Gefahr eines schweren Covid-19-Erkrankungsverlaufs vorab prognostiziert werden. So können womöglich rechtzeitig lebensrettende Maßnahmen eingeleitet werden.
Während man zu Beginn der Corona-Pandemie noch davon ausgegangen war, dass das Virus vor allem Lunge und Atemwege befallen würde, ist inzwischen klar, dass Sars-CoV-2 auch andere Organe wie das Herz schädigen kann. Dass auch die Niere betroffen sein könnte, war angesichts der Dramatik im Krankheitsverlauf auf vielen Intensivstationen zunächst kaum zur Kenntnis genommen worden, obwohl vielerorts eine auffällig hohe Rate an akutem Nierenversagen konstatiert werden konnte. Es gab jedoch hierzulande einige Kliniken mit der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) an der Spitze, in denen Medizinern und Wissenschaftlern bei der stationären Behandlung von Covid-19-Patienten der Verdacht auf eine Nierenbeteiligung schon im Anfangsstadium der Schwersterkrankung gekommen war. Für die Göttinger Experten Grund genug, sich über diesen möglichen Befund zunächst mit Kollegen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf auszutauschen und anschließend auch noch Kontakt zu weiteren Fachleuten im In- und Ausland aufzunehmen.
Mithilfe von einfachen Urintests gelang einem Team um Professor Oliver Gross von der Klinik für Nephrologie und Rheumatologie der UMG der Nachweis, dass eine Nierenentzündung ein frühes Alarmzeichen für einen bevorstehenden schweren Verlauf der Erkrankung sein kann. Bei rechtzeitiger Behandlung der Nephritis könnte in vielen Fällen ein späteres Versagen von Lunge oder Herz und womöglich auch der Tod verhindert werden. Ihre Erkenntnisse haben Oliver Gross und seine Senior-Autorin Professorin Simone Scheithauer, Direktorin des Instituts für Krankenhaushygiene und Infektiologie der UMG, im Mai als „Correspondence“ in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht und dem ärztlichen Fachpersonal als eine Art von Handlungspfad zur Früherkennung und Behandlung von schweren Covid-19-Krankheitsverläufen zur Verfügung gestellt. Zur Absicherung der Erkenntnisse aus Göttingen wurde eine große Beobachtungsstudie gestartet, an der sich mehrere deutsche Universitätskliniken beteiligen.
NIerenentzündung ist Alarmzeichen
Bei Urintests von Corona-Kranken waren den Göttinger Forschern dreierlei deutliche Abweichungen bezüglich Blut, weißen Blutkörperchen (Leukozyten) und dem Protein Albumin aufgefallen, was sie als frühe Warnzeichen oder Marker für einen bevorstehenden schweren Krankheitsverlauf eingeschätzt hatten. „Wir haben Abnormitäten in Urinproben von Patienten mit Covid-19 identifiziert, die dann innerhalb weniger Tage sehr krank wurden“, erklärt Oliver Gross. Aus diesem Befund wurde abgeleitet, dass die Nieren bereits vom Coronavirus angegriffen und entzündet worden waren, dass es darüber hinaus aber auch schon zu krankhaften Blutgefäß- und Blutveränderungen gekommen sein musste – in der Regel schon deutlich vor Auftreten anderer schwerer Symptome wie Atemnot oder Lungenentzündung.
In ihrem Handlungspfad regen die Wissenschaftler an, dass beim Nachweis von mindestens zweien dieser Marker – was den Verdacht auf eine Covid-19-assoziierte Nephritis nahelege – unbedingt eine anschließende Überprüfung von drei Paramatern anzuraten sei: Albumin im Blut, Albumin im Urin und der Blutgerinnungs-Hemmstoff Antithrombin III im Blut. „Ist auch nur einer von drei Parametern schwer verändert, besteht ein hohes Risiko, dass sich die Erkrankten auf Normalstation zeitnah verschlechtern, auf die Intensivstation verlegt werden müssen oder sich der Verlauf auf der Intensivstation noch verschlechtert“, so Oliver Gross. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich ein schwerer Krankheitsverlauf voraussagen lässt. Als signifikantes Alarmzeichen gilt, wenn das einer Blutverdickung entgegenwirkende Antithrombin III auf weniger als 60 Prozent abgesunken ist und wenn Albumin im Blutserum unter zwei Milligramm pro Deziliter Serum gefallen ist.
Diese drei Parameter sollen gemeinsam mit dem vorgeschalteten Urinbefund dazu dienen, das sogenannte Kapillarlecksyndrom zu diagnostizieren. Wobei es sich um einen lebensbedrohenden Verlust von Blutbestandteilen und Bluteiweiß handelt, die über eine vom Virus verursachte erhöhte Durchlässigkeit der kleinen Blutgefäße in das Lungengewebe eindringen können. Dieses schwillt an, das Atmen und die Aufnahme von Sauerstoff werden dadurch erschwert. Bei schwerem Mangel von Albumin im Blut kann sich ein sogenanntes interstitielles Lungenödem bilden, besser bekannt als Wasserlunge. Liegen Serum-Albumin, Antithrombin III oder gar beide unter dem Grenzwert, ist das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf deutlich erhöht.
Therapien sind früher möglich
Bei Früherkennung des Kapillarlecksyndroms stehen dem medizinischen Fachpersonal laut den Göttinger Forschern allerdings einige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, mit denen gravierende Komplikationen verhindert werden können. Bereits vor Verschlechterung der Atmung können beispielsweise entwässernd-harntreibende Diuretika verabreicht werden, um ein Volllaufen des Lungengewebes mit Flüssigkeit zu vermeiden. Allerdings muss eine hohe Diuretika-Dosis zum Einsatz kommen, weil Entwässerungsmedikamente, die bei besonders ernsten Krankheitsverläufen auch noch durch Dialysemaschinen unterstützt werden können, bei Albuminmangel weniger gut wirken. Letzterer kann auch leicht zu Kreislaufversagen führen, daher müssen gegen den Eiweißverlust im Blut rechtzeitig Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Kritische Medikamente wie Antibiotika können wegen der Veränderungen in der Plasma-Eiweißbindung gänzlich unerwartete Wirkstoffkonzentrationen haben, weshalb gegebenenfalls der Medikamentenspiegel entsprechend angepasst werden muss. Den durch schweren Mangel an Antithrombin III verursachten Thrombosen (Gerinnsel in den Blutgefäßen) oder Thromboembolien (die Lungengefäße verstopfende Gerinnsel) kann durch die Verabreichung von Blutverdünnungsmitteln wie Heparin gegengesteuert werden, wobei auch hier höhere Heparin-Dosen nötig sind, um den Vorbeuge-Effekt gegen die Bildung von Gerinnseln erzielen zu können.
„Wenn sich die Befunde des Ärzteteams der UMG bestätigen“, so Simone Scheithauer, „hätte dies einen nachhaltigen Effekt. So könnte künftig bereits im Vorfeld die Notwendigkeit einer kommenden Behandlung auf Intensivstation vorhergesagt werden. Zudem könnten Patienten früher und zutreffender für spezielle Therapien zugeordnet werden (auch bei Medikamentenstudien). Durch das frühe Erkennen des Kapillarlecksyndroms könnten symptomatische präventive Therapien eingeleitet werden und so vielleicht sogar lebensbedrohliche Verläufe verhindert werden.“ Weil der Urintest wenig Aufwand erfordert, halten die Göttinger Forscher ihn auch für Covid-19-Patienten in Pflegeheimen oder für Betroffene in häuslicher Quarantäne für bestens geeignet. Hier könnte der Urinbefund dann schnell Auskunft darüber geben, ob eventuell mit einer baldigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes gerechnet werden muss und was ambulant getan werden kann, um weitere Schädigungen oder einen Krankenhausaufenthalt womöglich verhindern zu können.