Es steht nur noch auf wenigen tönernen Füßen: Obamacare, das Krankenversicherungsgesetz, das wie kein anderes sinnbildlich für das politische Erbe Barack Obamas steht. Doch die ständigen Angriffe der Republikaner drängen das Gesetz bis an den Rand des Kollaps.
Donald Trump hat während seiner nun fast vierjährigen Präsidentschaft nichts unversucht gelassen, um noch das kleinste Andenken an seinen Vorgänger in irgendeiner Weise zu torpedieren, zu demontieren, ja zu vernichten. Bei einem besonders wichtigen Projekt ist ihm das bislang allerdings nicht gelungen: Obamacare gibt es immer noch.
Seit zehn Jahren währt der Kampf, doch weder der Kongress, noch der Oberste Gerichtshof, noch ein republikanischer Präsident konnten die Versicherung bislang stoppen. Kern der ideologisch aufgeheizten Debatte zwischen konservativen und progressiveren Kräften ist nach wie vor der Pflichtcharakter des Gesetzes von 2010: Während die progressiveren Demokraten vor allem angesichts der Coronavirus-Pandemie den Ausbau hin zu einer staatlichen Versicherungskasse fordern, lehnen die Republikaner das Gesetz grundsätzlich ab. Jetzt, während der Corona-Krise, entpuppt sich Obamacare als Programm, das die Kosten der Pandemie für all diejenigen, die es sich ohne Versicherung nicht leisten können, einigermaßen schultern kann. Denn wie sich zeigt, sind besonders die unteren Einkommen von den Auswirkungen der Pandemie gesundheitlich stark betroffen – Millionen von ihnen sind mittlerweile versichert.
Versicherer befürworten das Gesetz
Gedacht war der „Affordable Care Act" (ACA) oder schlicht Obamacare für ärmere US-Amerikaner und alle, die keine Arbeit haben – denn in den USA gilt: Wer arbeitet, ist gewöhnlich auch über den Arbeitgeber krankenversichert; er war gedacht für alle, die zu jung sind für das zweite Standbein des US-Gesundheitssystems, Medicare, das vor allem Senioren zugutekommt; für alle, die gewissermaßen nicht arm genug sind, um von dem staatlichen Gesundheits-Hilfsprogramm Medicaid zu profitieren. Ein knappes Viertel aller Amerikaner, 22,3 Prozent, war bis zum Inkrafttreten des ACA im Jahr 2010 unversichert. Heute sind es nur noch knapp zwölf Prozent, meldet das National Center for Health Statistics. Damit sind mittlerweile 20 Millionen mehr Amerikaner versichert als vor dem Gesetz – vor allem diejenigen, denen die US-Versicherungskonzerne zuvor die Versicherung verweigerten, weil ihre Gesundheitskosten wegen komplexer Erkrankungen wie beispielsweise Multipler Sklerose den Unternehmen schlicht zu hoch waren. Mittlerweile befürworten sogar Versicherungskonzerne eine Ausweitung von Obamacare. Sie haben gelernt, damit umzugehen, der Markt hat sich stabilisiert, mehrere Konzerne wie United Healthcare kehren gerade wieder mit neuen Versicherungsangeboten zurück. Der Grund: Millionen Amerikaner sind mittlerweile arbeitslos, verlieren ihre Versicherung, die Versicherungsunternehmen damit ihre Einnahmen aus den Policen.
Ausgelöst durch die wirtschaftlichen Verwerfungen des Coronavirus sind derzeit knapp 21 Millionen Amerikaner ohne Job, mehr als die Hälfte von ihnen ohne Krankenversicherung – und das inmitten einer Gesundheitskrise. Prompt öffneten viele Staaten die für dieses Jahr schon geschlossenen Obamacare-Versicherungsportale im Internet. Laut den Demokraten im US-Kongress wäre der Ausbau des ACA also dringend geboten. Politisches Kalkül: das gesetzliche System wieder stärken, um es widerstandsfähiger gegen die republikanischen Angriffe zu machen. Denn zwar waren die Republikaner bislang in jedem Rechtsstreit rund um das Gesetz unterlegen. Dennoch nutzten sie die Chancen, die sie als Regierungspartei nun hatten. Donald Trump reduzierte die Ausgaben für das Marketing von Obamacare um 90 Prozent, um das Gesetz auf diese Art „auszuweiden" statt es rechtlich zu kippen, so sein O-Ton. Die Regierung stellte zehn Milliarden Dollar staatliche Zuschüsse infrage, die zur Deckung von Kosten für Versicherte vorgesehen waren, die kränker wurden, als zuvor angenommen. Außerdem kürzte ein republikanisch besetzter Beamtenapparat die staatlichen Zuschüsse für Beratungen rund um die oft komplexen Versicherungsprodukte radikal von 63 Millionen auf jetzt noch zehn Millionen US-Dollar zusammen, drängt gesunde jüngere Versicherte in Billigversicherungen, um die Prämien für gesunde ältere Menschen hochzutreiben – eine Politik der tausend Nadelstiche, die das Programm ausbluten und möglichst unattraktiv für die Versicherten machen soll. Bis jetzt sei jedoch keine große Abwanderung aus den Oba-macare-Versicherungen auszumachen, berichten Unternehmen wie Centene oder United Healthcare unisono.
Mit Trumps Steuererlass von 2017 könnte nun dennoch das Ende von Oba-macare gekommen sein. Republikanische Bundesstaaten sind der Auffassung, die Steuerreform habe Obamacare die gesetzliche Grundlage entzogen. Ein komplizierter Rechtsstreit droht. Die Argumentation der Justizminister von 17 US-Bundesstaaten: Die Trump-Regierung habe mit dem Steuererlass vor drei Jahren die Strafe auf das individuelle Mandat gekippt, sprich das Bußgeld, das Amerikaner leisten müssen, wenn sie sich nicht pflichtversichern lassen; die Versicherungspflicht, das Herzstück des ACA, sei damit praktisch eliminiert, das Gesetz also verfassungswidrig. Die Trump-Regierung bestätigte diese Auffassung. Die Demokraten halten dies für einen „kaltherzigen Versuch", inmitten einer Pandemie den Versicherungsschutz zu reduzieren. Stattdessen wollen sie Oba-macare auch für mittlere Einkommen ausweiten und günstigere Medikamentenpreise aushandeln. Ein längst überfälliger Schritt in einem marktgetriebenen Gesundheitssystem, dessen Kosten seit Jahrzehnten explodieren.
Bundesstaaten öffnen Obamacare-Portale
Die Debatte um eine Krankenversicherung ist ideologisch aufgeheizt, seit das Gesetz verabschiedet wurde. Die unabhängige Kaiser Family Foundation führt Statistiken zur nationalen Gesundheit in den USA und untersucht regelmäßig die Einstellungen der Amerikaner zu Obamacare. Das Ergebnis: Eine knappe Mehrheit von 55 Prozent ist aktuell, in der Coronakrise, für das Gesetz, 41 Prozent sind dagegen. Gespalten ist das Land wieder einmal entlang der politischen Einstellungen: Die überwältigende Mehrheit der Demokraten (80 Prozent) ist dafür, die überwältigende Mehrheit der Republikaner (76 Prozent) dagegen. Vor allem jene Strafzahlung bei Nichtversicherung, das sogenannte individuelle Mandat, war den Republikanern ein Dorn im Auge. Hinzu kommt – mit immensem Gewicht – die ideologische Debatte. Libertäre und Konservative gleichermaßen wehren sich heftig seit Jahren gegen eine Einflussnahme des Staates. Konservative Gegner prägten den Begriff der „feindlichen Übernahme" des traditionell privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystems durch die Regierung und Obamacare. Das klingt griffig und vor allem nach Freiheitsverlust. Jedoch sind auch Liberale und progressivere Kräfte gegen das Gesetz – es geht ihnen nicht weit genug. Ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung vieler Amerikaner: Es ist zu kompliziert. Der ACA hat die überbordende Komplexität vieler Versicherungsprogramme nicht angetastet.
Mit dem Abschaffen von Obamacare würden 23 Millionen Amerikaner ihre Krankenversicherung verlieren, sagte Nancy Pelosi, Mehrheitsführerin der Demokraten im Repräsentantenhaus. Ob der Oberste Gerichtshof den Antrag der Regierung auf Annullierung des Gesetzes noch vor den Wahlen zustimmt, ist jedoch fraglich. Aus Sicht der Republikaner wäre jedoch der Status quo vor dem ACA wiederhergestellt: Die individuelle Freiheit, sich nicht in die Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen begeben zu müssen, wäre wiederhergestellt. Fast jeder zehnte Amerikaner hatte kurz vor der Krise keine Versicherung – weil sie zu arm waren, um sich Obamacare leisten zu können. Und wer an Folgeerkrankungen durch Covid-19 leiden würde, müsste künftig die teuren Rechnungen selbst bezahlen. Arzt- oder Krankenhausrechnungen sind in den USA die häufigste Ursache für eine Privatinsolvenz. Das Land, das als einziges westliches Industrieland keine allgemeine Krankenversicherung besitzt, leidet vor allem jetzt unter dem teuersten und ineffizientesten Gesundheitssystem der Welt.