Geht Trump, wenn Biden gewinnt? Sollten die Republikaner die Wahl anfechten, um weiterhin das Weiße Haus zu kontrollieren, stürzt das Land in eine Verfassungskrise. Für die Republikaner wäre dies von Vorteil. Denn ihre demokratische Machtbasis bröckelt.
Lawrence Douglas ist Rechtswissenschaftler am renommierten Amherst College. In seinem aktuellen Buch „Will He Go?" (Deutsch: Wird er gehen?) beschreibt Douglas mögliche Szenarien nach dem kommenden Wahlabend am 4. November. Sollte Joe Biden die Präsidentschaftswahlen gewinnen, wird sich Donald Trump fügen und abtreten? Über all den Spekulationen in Douglas’ Buch schwebt die Frage, ob Amerikas Verfassung gegen derlei Tabubrüche, wie sie Trump ohnehin am laufenden Meter erzeugt, überhaupt vorbereitet ist. Im Augenblick zeigen sich „Checks and Balances", das System von gegenseitiger Kontrolle und Balance der demokratischen Institutionen, noch relativ stabil. Das zeigen zum Beispiel zwei bemerkenswerte Entscheidungen des derzeit republikanisch kontrollierten Obersten Gerichtshofes: Er bestätigte kürzlich das Diskriminierungsverbot der LGBTQ-Gemeinde am Arbeitsplatz und verhinderte vorerst die Abschiebung der sogenannten Dreamer, Menschen, die sich ohne gültige Papiere in den USA aufhalten. Damit bescherte das Gericht der Regierung gleich zwei politische Niederlagen. Die USA werden jedoch in eine Verfassungskrise stürzen, sollte Trump die Wahl anfechten und nicht freiwillig abtreten. „Die Obama-Regierung", sagt Douglas in einem Interview, „war bereit, sich mit einem Kandidaten zu befassen, der die Wahlergebnisse infrage stellt. Aber wenn Sie einen Amtsinhaber haben, der das tut, ist das eine weitaus gefährlichere Situation, denn das ist wirklich eine Herausforderung für die friedliche Nachfolge."
Zweimal in der US-amerikanischen Geschichte gab es Anzeichen für Lücken in der Verfassung, wenn die Präsidentschaftswahl nicht eindeutig erscheint. Zum ersten Mal bei der Wahl zwischen Rutherford B. Hayes (Republikaner) und Samuel Tilden (Demokraten) 1876. Hayes und Tildens Wahlkampf war geprägt von üblen Schmier- und Hetzkampagnen, mit denen sich beide Kandidaten überzogen. Am Wahlabend, die meisten Staaten waren bereits ausgezählt, war klar: Tilden hatte mit weitem Abstand vor Hayes gewonnen. Doch die Republikaner hatten eine Idee: In Zusammenarbeit mit der „New York Times" ließen sie Geschichten veröffentlichen, die Zweifel an Tildens Wahl aufkommen ließen, indem sie Florida, Louisiana und South Carolina für die Republikaner beanspruchten. Die Partei setzte diesen Zweifel in die Realität um, indem sie die Rückmeldungen der Wahlkommissionen aus von Demokraten regierten Bundesstaaten infrage stellte und für ungültig erklären lassen wollte. Tildens 7.000-Stimmen-Mehrheit in Louisiana verschwand, als die Wahlkommission einfach 13.000 seiner Stimmen für ungültig erklärte. In Florida entschied das republikanisch kontrollierte Wahlkomitee, dass Hayes trotz Tildens Mehrheit gewonnen hat.
Lücken in der Verfassung
Das Konzept „alternative Fakten" ist also nicht neu. In Windeseile schmolz Tildens Vorsprung und Hayes lag plötzlich vorne. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig der Wahlmanipulation. Dennoch hielten sie sich an die Verfassung: Bis zum (von der Verfassung) festgelegten Termin des Amtsantrittes musste eine eindeutige Lösung her. Nach unzähligen Hinterzimmergesprächen stand Hayes als Sieger fest. Die Demokraten verzichteten auf ihren sicher geglaubten Sieg, erhielten einen Sitz im Kabinett und eine neue transkontinentale Eisenbahn durch die Südstaaten.
Infolgedessen verabschiedete der Kongress 1887 den Electoral Count Act, der diese Art von Chaos im Grunde beheben sollte. Juraprofessor Lawrence Douglas hält das Gesetz jedoch für eine Katastrophe. „Es gibt einfach keine Anleitung, wie man aus einem Wahlkampf herauskommt, sobald er beginnt. Tatsächlich würde ich sagen, dass das Gesetz es wahrscheinlicher macht, dass Sie von einer Krise zu einem vollständigen Zusammenbruch und einer Lähmung übergehen."
Ähnlich strittig ist die Wahl zwischen George W. Bush und Al Gore, den amtierenden Vizepräsidenten von Bill Clinton, im Jahr 2000. Wieder geht es um die Stimmenmehrheit, die über die Zusammensetzung des „Electoral College", also die Wahlmännerkommission entscheidet, die letztlich den Präsidenten wählt. Diese Stimmenmehrheit erweist sich als nicht eindeutig, es gibt juristische Probleme bei der Auszählung der Stimmen in Florida. Der Oberste Gerichtshof schreitet ein und verbietet eine erneute händische Stimmauszählung. Das Ergebnis: George W. Bush gewinnt Florida mit einem Vorsprung von 538 Stimmen und damit die Präsidentschaftswahl. Das Entscheidende jedoch: Der Demokrat Al Gore ficht die Wahl nicht an, sondern erkennt seine Niederlage an.
Edward Foley, Professor für Verfassungsrecht und Experte für Wahlen an der Ohio State University, sieht ein ähnliches Chaos im November heraufziehen. Die im Falle von Hayes gegen Tilden umstrittenen Wahlergebnisse wurden aus Florida, Louisiana und South Carolina gemeldet, im November 2020 könnten die fraglichen Ergebnisse aus den Swing States Pennsylvania, Wisconsin, Arizona oder erneut Florida stammen. Schon jetzt beschäftigt sich eine nationale Task Force aus überparteilichen Experten damit, welche Problemszenarien erwartbar sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen.
Task Force für Wahlprobleme
Es stellt sich also die Frage: Cui bono? Wem nützt es, wenn die Verfassung und das politische System auf diese Weise herausgefordert werden? Die Antwort: dem Machterhalt der Republikaner. Denn deren Wählerbasis als demokratische Legitimation dieser Macht schrumpft. Schon während der Kongresswahlen 2018, nach denen die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellten, zeigte sich sehr deutlich, wie sehr das Wählerpotenzial der USA derzeit in Richtung der Demokraten pendelt: Es registrierten sich mehr jüngere Wähler im Alter von 18 bis 53 Jahren als ältere; es gaben mehr Hispanics und asiatischstämmige Amerikaner ihre Stimme ab, zwei Gruppen, die laut dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Pew Research rasch wachsende Wählergruppen in den USA sind und eher zu den Demokraten tendieren. Immerhin 60 Prozent der republikanischen Wählerschaft war 2018 weiß und männlich, 49 Prozent weiblich, während beispielsweise über 90 Prozent der schwarzen Wählerschaft demokratisch wählte.
Statistiken zeigen, dass der Anteil der Weißen an der Gesamtzahl aller US-Wähler gegenüber Schwarzen, Hispanics und Asiatischstämmigen schon seit 1990 beständig sinkt – ein Warnsignal für die Republikaner, die sich seit den 90er-Jahren verstärkt auf moralisch-konservative oder religiös-konservative weiße Wähler stützen. Da klingt der Traum von Karl Rove, einem der prominentesten Politstrategen der Republikaner, schon fast nach Verblendung: Rove sicherte als enger politischer Berater von Präsident George W. Bush dessen Wiederwahl im Jahr 2004. Seine Vision: eine permanente republikanische Mehrheit in Washington zu installieren. Dies misslang: 2008 wählten die Amerikaner einen demokratischen Präsidenten und einen demokratischen Kongress. Schuld daran war auch die „Tea Party"-Bewegung innerhalb der Republikaner. Diese Fehleinschätzung steht exemplarisch dafür, dass die Partei ihre interne Polarisierung unterschätzt hat.
Der konservative Historiker und Journalist Michael Barone hat in seinem Buch „How America’s Political Parties Change (and How They Don’t)" (Deutsch: Wie sich Amerikas politische Parteien verändern (und wie nicht)) den Grund dafür ausgemacht: Das Zweiparteiensystem der USA verstärkt die Fliehkräfte in beiden Parteien, deren unterschiedliche Gruppierungen und Interessen aktuell nicht mehr unter einen Hut zu bringen sind – vor allem, wenn sie, wie seinerzeit Rove, glauben, das Präsidentenamt oder den Kongress gewissermaßen gepachtet zu haben. Dann beginnen Kämpfe innerhalb der Partei um den richtigen Kandidaten für jene Ämter. Hinweise darauf liefert der Machtkampf, den die kleine, aber lautstarke Tea-Party-Bewegung damals in den Reihen der Republikanern anzettelte, wie auch der noch immer schwelende Kampf zwischen progressiven und moderaten Demokraten.
Starke Fliehkräfte
Die Republikaner scheinen diesem inneren Druck der Tea Party, zu der sich nach Umfragen etwa 20 Prozent der Parteianhänger zählen, bereits nachgegeben zu haben. Sie stützen sich derzeit auf eine felsenfeste erzkonservative, libertäre und, in geringerem Maße als noch vor 2009, religiös-evangelikale Basis. Das ideologische Credo lautet: so wenig Staat wie möglich; Freiheit für alle, die sich dafür anstrengen. Entsprechend zieht sie finanzkräftige Spender wie die öffentlichkeitsscheuen Unternehmer-Brüder David (2019 verstorben) und Charles Koch, die Unternehmerfamilie Uihlein oder den nicht minder öffentlichkeitsscheuen Hedgefonds-Milliardär Robert Mercer an, deren Ziel ebendies ist: den Staat mehr oder minder abzubauen, zugunsten der Privatwirtschaft. Eine Erosion der demokratischen Strukturen, von „Checks and Balances", und eine chaotische Wahl im November dieses Jahres spielen ihnen also in die Hände.
Der US-amerikanische Staat hat über die vergangenen Jahrzehnte stark an Glaubwürdigkeit verloren. Nur noch 17 Prozent der US-Amerikaner vertrauen laut Pew Research dem System in Washington. Donald Trump konnte dieses Tief in seinem Anti-Establishment-Wahlkampf 2016 zu seinen Gunsten ausnutzen. Mit seiner Art der Amtsführung hat er, sieht man von seiner Wählerbasis ab, die Glaubwürdigkeit der USA außen- wie auch innenpolitisch noch weiter massiv beschädigt und sät auf Twitter weiter Misstrauen. Indem Trump seit Kurzem immer wieder darauf hinweist, dass die Wahl manipuliert sein könnte – je nach Tagesform des Präsidenten durch gefälschte Wahlzettel aus dem Ausland, Fälschungen der Demokraten oder die Briefwahl an sich –
robbt er sich langsam an die Achillesferse der amerikanischen Verfassung heran: Im Falle eines Streites zwischen Amtsinhaber und Kandidaten um die Stimmen und letztlich das Amt gibt es keine juristische Handhabe. Allenfalls den Präzedenzfall Bush gegen Gore.
Und dieser wurde beigelegt, indem Al Gore freiwillig aufgab. Ob Joe Biden dazu bereit wäre, um die USA nicht in eine Verfassungskrise zu stürzen und Trump dadurch vier weitere Jahre im Weißen Haus zu ermöglichen? Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Fall eintritt, ist laut dem Gutachten des Verfassungsrechtlers Edward Foley durchaus gegeben. In vergangenen Kongresswahlen wie beispielweise bei Trumps Wahl 2016 fiel die Zahl der für Trump abgegebenen Stimmen, in Pennsylvania zum Beispiel in ersten Ergebnissen von 67.951 Stimmen auf nur noch 44.292 – wegen Auszählungsfehlern, unterschiedlicher oder veralteter Wahlmaschinen und -systemen und Kommunikationsfehlern bei mehr als 10.000 lokalen Aufsichtsbehörden und Tausenden freiwilligen Helfern, die für die Wahl zuständig sind. Trump hat per Twitterbotschaft bereits angekündigt, nur die ersten Ergebnisse zu akzeptieren –wenn sie ihn im Amt bestätigen.
„Es bedarf keiner außergewöhnlichen Katastrophe wie eines ausländischen Cyberangriffs, um Bedingungen zu schaffen, die es den Parteien ermöglichen, das Ergebnis anzufechten", schreibt Verfassungsexperte Foley. „Stattdessen könnte ein Streit im Kongress aus einer so routinemäßigen Situation wie [einer Verschiebung der Stimmenauszählung] entstehen. Angesichts dieser Möglichkeit ist es wirklich unverantwortlich, dass der Kongress nicht versucht hat, im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2020 die Unklarheiten zu beseitigen, die den Electoral Count Act plagen."