Wenn selbst Donald Trump öffentlich für Colin Kaepernick einspringt, hat sich der Wind mächtig gedreht. Der ausgestoßene Quarterback soll wieder eine Chance in der NFL erhalten – doch will er das überhaupt noch?
Wenn ein 32-Jähriger eine Autobiografie veröffentlicht, ist Skepsis angebracht. Bei Colin Kaepernick liegt der Fall anders. Der frühere Football-Star kann von so vielen Höhen und Tiefen berichten, dass schon vor dem Erscheinen des Buches Ende des Jahres eine Bestseller-Garantie besteht. Kaepernick stieg vom unorthodoxen Talent zum umjubelten Supersportler auf – um dann wegen eines Kniefalls in jahrelange Ungnade zu fallen und zugleich zum Symbol einer riesigen Protestbewegung zu werden. Jetzt, wo „Black Lives Matter" Kaepernicks Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA mit einem breiten Konsens in der Bevölkerung fortsetzt, scheint sich für den Quarterback die Tür zur nordamerikanischen Profiliga NFL wieder zu öffnen.
In Amerika hat sich durch den gewaltsamen Tod von George Floyd der Umgang mit den Themen spürbar verändert, das hat selbst Donald Trump realisiert. Der US-Präsident, der Spieler, die bei der Nationalhymne in die Knie gegangen waren, öffentlich als „Hurensöhne" beschimpft hatte, vollzog eine 180-Grad-Wendung bei Kaepernick, dem Initiator der „Take a Knee"-Aktion. Der frühere Quarterback der San Francisco 49ers habe eine zweite Chance in der NFL „absolut" verdient, sagte Trump auf die Frage einer TV-Station in Washington D.C. – ohne dabei rot zu werden. Trump war es, der von ganz oben über viele Jahre Druck auf die Clubchefs ausgeübt hatte, damit Kaepernick auch ja keinen Kaderplatz mehr in der NFL bekommt. Und jetzt plötzlich schwärmt Trump vom „großartigen" Start in Kaepernicks Karriere, dieser sei als Rookie „wunderbar" gewesen und habe ein Comeback verdient – „falls er die spielerischen Fähigkeiten dazu hat", schränkte Trump ein.
Zweite Chance „absolut" verdient
Diese Frage stellen sich Experten und Fans auch, schließlich hat Kaepernick sein letztes Spiel am 1. Januar 2017 bestritten. Doch eine andere Frage ist viel drängender: Will Kaepernick überhaupt zurück? Im November des vergangenen Jahres absolvierte der Profi auf dem Platz einer Highschool eine öffentliche Einheit, um sich den Scouts für ein Comeback zu empfehlen. Einen Vertrag bekam er nicht. „Ich bin hergekommen, um vor allen zu zeigen, dass ich nichts zu verstecken habe", hatte er damals gesagt. „Ich bin seit drei Jahren bereit, ich wurde drei Jahre behindert. Wir alle wissen, warum." Kaepernick wurde 2017 von den 49ers freigestellt und war danach bei den anderen Clubs geächtet. Damals galt er in der Liga als Nestbeschmutzer, weil er im September 2016 als Zeichen gegen Polizeigewalt und Rassismus bei der Nationalhymne auf sein rechtes Knie gegangen war und dies danach wiederholt hatte. Heute geben selbst Kritiker zu: Der Sohn eines Afroamerikaners und einer Weißen, der von weißen Adoptiveltern großgezogen wurde, war seiner Zeit voraus. Und er hatte den Mut, als Erster ein Zeichen zu setzen.
Im November 2019 war von einem Massenprotest auf den US-Straßen aber noch nichts zu sehen, Kaepernick hatte bei seinem Showtraining keine Chance auf einen Vertrag. „Wir warten darauf, dass die 32 Besitzer, die 32 Teams aufhören, vor der Wahrheit wegzurennen", sagte er damals. Er sei bereit, versicherte Kaepernick, mit jedem Team zu sprechen und bei jedem Team zu spielen: „Der Ball liegt in ihrem Spielfeld." Die NFL hatte Kaepernick an jenem Tag zu einer Einheit in der Trainingsstätte der Atlanta Falcons vor Scouts von 25 Teams eingeladen, doch Kaepernick sagte ab – und warf lieber eine Autostunde entfernt in einer Highschool den Football. Aus Gründen der „Transparenz", wie er damals erklärte.
„Wir haben Spielern nicht zugehört"
Sein Vertrauen in die NFL, die schon lange mit Rassismus-Vorwürfen zu kämpfen hat und in der viele Teameigentümer leidenschaftliche Trump-Unterstützer sind, ist tief erschüttert. NFL-Commissioner Roger Goodell hat nichts unversucht gelassen, Kaepernicks Rückkehr zu erschweren. Doch plötzlich ist auch er bekehrt: Er „begrüße und unterstütze" ein Comeback und „ermutige" die Clubs, sich mit Kaepernick zu beschäftigen. Diese Aussage ist so ziemlich das komplette Gegenteil von dem, was Goodell seit September 2016 getan hat. Doch der nicht zu stoppende Protest, der Druck prominenter schwarzer, aber auch weißer Stars wie Tom Brady oder Aaron Rodgers haben den NFL-Boss zum Umdenken gebracht. Er entschuldigte sich sogar öffentlich. „Wir, die NFL, geben zu, dass wir in der Vergangenheit falschgelegen haben. Wir haben unseren Spielern nicht zugehört und haben sie nicht ermutigt, sich zu äußern und friedlich zu protestieren", sagte Goodell in einer Videobotschaft. Man verurteile „den Rassismus und die systematische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung." Kurz zuvor hatten Starspieler wie Super-Bowl-Gewinner Patrick Mahomes die NFL aufgefordert, genau diesen Satz zu sagen. Goodell weiß natürlich, dass sich der Wind gedreht hat. Eine Haltung wie vor einem Dreivierteljahr würde die NFL massiv Sympathien und damit Geld kosten. Auch unter diesem Aspekt ist Goodells Einladung an Kaepernick zu verstehen, sich bei „schwierigen Themen" außerhalb des Spielfelds in Zukunft einzubringen. Die NFL erhoffe sich dadurch „bessere Entscheidungen zu den Dingen, die getan werden müssen", erklärte Goodell. Die Gesellschaft sei an einem Punkt angekommen, „an dem sich jeder verpflichtet hat, langfristige und nachhaltige Veränderungen herbeizuführen".
Es ist höchst fraglich, ob sich der eigenwillige Kaepernick von der Liga derart vor den Karren spannen lassen wird. Der Quarterback, der als „unrestricted free agent" seinen künftigen Arbeitgeber frei wählen kann, geht lieber eigene Wege. Ob die ihn noch einmal zurück aufs Football-Feld führen? Zurück zu jener Klasse, mit der er 2013 San Francisco in den Super Bowl geführt hatte?
Geld dürfte keinen Reiz ausüben. Kaepernick einigte sich im Februar mit der NFL auf eine Vergleichsvereinbarung, nachdem er wegen einer systematischen Ausgrenzung seiner Person Beschwerde eingereicht hatte. Wegen der Geheimklausel wurden zwar keine Details bekannt, doch die NFL dürfte ordentlich geblutet haben. Außerdem haben sich für ihn in der Zwischenzeit auch andere Geschäftsfelder eröffnet. Kaepernick stieg als Vorstandsmitglied bei der Online-Plattform Medium ein, der Streaming-Gigant Netflix wird demnächst die Serie „Colin in Black and White" über ihn ausstrahlen.
„Colins Arm ist erstklassig"
Bleibt der sportliche Reiz. Viele Experten nennen die Baltimore Ravens als das Team, bei dem Kaepernick am ehesten unterkommen könnte. Dort könnte er dem fast zehn Jahre jüngeren Quarterback Lamar Jackson als Mentor zur Seite stehen, außerdem würde er als Typ perfekt in die Stadt passen. In Baltimore sind 63 Prozent der Bevölkerung schwarz, die gesellschaftlichen Missstände noch extremer als anderswo. Interesse signalisierten aber auch die Los Angeles Chargers. „Es wäre doch verrückt", sagte Cheftrainer Anthony Lynn, Kaepernick nicht mindestens zum Probetraining einzuladen. Der schnelle und spielintelligente Profi sei genau der Typ Quarterback, der zu seinem System passe. Auch der ehemalige Teamkollege Eric Reid ist nach Kaepernicks öffentlichem Training sicher, dass der Quarterback noch immer die Qualität für die NFL hat: „Wir wussten, dass Colins Arm erstklassig ist. Einige haben es bezweifelt, jetzt habt ihr euren Beweis."
Klar ist aber auch: Mit Kaepernick kauft man sich auch jede Menge Aufmerksamkeit ein. Für das Merchandising und Sponsoring wäre eine Verpflichtung sicher gut, von der Ruhe kann sich das aufnehmende Team aber verabschieden. Jeder Schritt, jede Aktion, jedes Wort von Kaepernick steht unter genauer Beobachtung. Das hat sich seit seinem „Kniefall" am 1. September 2016 nicht geändert. Damals, beim Vorbereitungsspiel der San Francisco 49ers gegen die San Diego Chargers, ging der Profi bei der Nationalhymne erstmals auf die Knie. Er und sein Mitspieler Reid hatten zuvor mit Nate Boyer, einem ehemaligen Football-Profi und Mitglied einer Spezialeinheit der US-Armee, darüber diskutiert. Und Boyer war der Meinung, dass es respektvoller und gestenreicher sei, bei der Hymne zu knien, als einfach nur teilnahmslos auf der Bank zu sitzen.
Das sahen viele Amerikaner anders. Die Nationalhymne ist in den USA heilig, sie ertönt vor jedem noch so kleinen Spiel und wird mit großem Pathos von allen Beteiligten verfolgt. Für einen nicht gerade kleinen Teil des 330-Millionen-Einwohner-Landes war Kaepernick deswegen mehr oder weniger ein Vaterlandsverräter. „Ich weiß", sagte er nach dem ersten Kniefall, „dass meine Aktion Konsequenzen haben wird." Wahrscheinlich wusste er damals schon, dass die Aktion seine Karriere vorzeitig beenden könnte. Dennoch war er sich sicher, das Richtige zu tun: „Ich kann nicht in den Spiegel schauen und zusehen, wie Menschen sterben, die die gleichen Chancen wie ich verdient hätten."
Zum „Dank" für seinen Gerechtigkeitssinn wurde er ausgestoßen. So lange „sie sich nicht gezielt bei Colin Kaepernick entschuldigen oder ihn einem neuen Team zuteilen, werden sie auch nicht auf der richtigen Seite der Geschichte ankommen", kritisierte Malcolm Jenkins von den New Orleans Saints die NFL. Der schwarze Bürgerrechtler Al Sharpton forderte sogar bei der Trauerfeier für George Floyd die NFL auf: „Gebt Colin Kaepernick seinen Job zurück!"