Fast über die gesamte Saison hinweg schien der Hamburger SV so gefestigt wie seit Jahren nicht. Nach dem im Saisonfinale wieder verpassten und im Endeffekt sogar verschenkten Wiederaufstieg in die Bundesliga steht nun erneut so ziemlich alles auf dem Prüfstand.
Vielleicht hat dieser Tage so manch einer in Hamburg an die Aussage von Uwe Seeler aus dem Jahr 2016 gedacht. „Uns Uwe" ist die größte Ikone des Hamburger SV, später war er Präsident, ist Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. Auf die Frage, was es bedeuten würde, wenn der HSV irgendwann aus der Bundesliga absteige, sagte der heute 83-Jährige damals, ein direkter Wiederaufstieg sei keine Selbstverständlichkeit. „Ich denke, den HSV würde eher das Schicksal von Kaiserslautern oder 1860 München ereilen, die sich vom Abstieg seit Jahren nicht mehr erholt haben und schon lange nicht mehr zu den Aufstiegsanwärtern zählen", hatte Seeler gesagt.
In der betreffenden Saison hatte es den „Bundesliga-Dino" noch nicht erwischt, aber ein Jahr später stieg der HSV als letztes Gründungsmitglied aus der Ersten Liga ab. Im Vorjahr dann nicht auf und diesmal eben wieder nicht.
Dabei schien in diesem Jahr alles bereitet. Der neue Sportvorstand Jonas Boldt hat in der Szene einen ausgezeichneten Ruf. Trainer Dieter Hecking galt mit seiner ruhigen und menschlichen Art als der ideale Coach für das chronisch unruhige Umfeld. Und die Mannschaft schien gut und diesmal vor allem realistisch zusammengestellt. Mit David Kinsombi aus Kiel, Daniel Heuer Fernandes aus Darmstadt, Jeremy Dudziak aus St. Pauli sowie Jan Gyamerah und Lukas Hinterseer aus Bochum kamen Spitzenspieler der Zweiten Liga, die die Gangart dort kannten. Dazu Bundesliga-erfahrene Profis wie Martin Harnik oder Tim Leibold, mit Adrian Fein ein großes Talent vom FC Bayern und im Saison-Verlauf mit Techniker Louis Schaub aus Köln, Außenverteidiger-Talent Jordan Beyer aus Gladbach und Torjäger Joel Pohjanpalo aus Leverkusen noch drei Leihspieler aus der Ersten Liga. Da sollte und konnte doch eigentlich nichts schiefgehen.
Und es begann ja auch richtig gut. Am 4. Spieltag eroberte der HSV die Tabellenführung, stand dann bis zum 23. Spieltag durchgängig und auch danach immer wieder auf einem direkten Aufstiegsplatz. Und weil die Hamburger sich auch durch die langwierigen Diskussionen um die Nationalität von Stürmer Bakery Jatta und Protesten gegen die Spielwertung von Gegnern weder aus dem Konzept bringen noch auseinanderdividieren ließen, schien allen klar, dass der HSV in der kommenden Saison 2020/21 wieder erstklassig sein wird. Woran das erneute Scheitern auf der Zielgeraden wohl gelegen hat, zeigt ein Blick auf die letzten Spieltage. Nach 31 von 34 Runden waren die Norddeutschen Zweiter, standen also auf einem direkten Aufstiegsplatz. Nach dem 32. Spieltag waren sie Dritter, damit wären sie in die Relegation gegangen. Nach dem 33. Spieltag und der Niederlage trotz Führung beim direkten Konkurrenten 1. FC Heidenheim rutschte der HSV auf Rang vier ab. Und nutzte zum Saisonfinale die Einladung der in Bielefeld verlierenden Heidenheimer nicht. Ein Unentschieden zu Hause gegen Sandhausen hätte zum Einzug in die Relegation gereicht, am Ende stand ein 1:5-Desaster. Offenbar ist der HSV mal wieder am Druck gescheitert.
„Man hat schon alles versucht"
Ein direkter Wiederaufstieg ist keine Selbstverständlichkeit, das haben auch schon andere große Traditionsvereine erleben müssen. Eintracht Frankfurt, der 1. FC Köln (beide zwei Mal) und auch Borussia Mönchengladbach mussten nach Abstiegen schon mal ein zweites Zweitliga-Jahr einlegen. Dann gingen sie aber jeweils wieder hoch. Der HSV geht nun in seine dritte Saison im Unterhaus. Und steht angesichts der so guten Voraussetzungen in diesem Jahr auch vor schwierigen Entscheidungen.
„Man hat schon damals nicht so richtig gewusst, woran es gelegen hat", sagte dieser Tage Dennis Aogo, der von 2008 bis 2013 beim HSV spielte, als Sky-Experte. „Und das macht es auch jetzt so schwer. Man hat scheinbar schon alles versucht, alle Personen ausgetauscht, hat es mit unterschiedlichen Trainern und Sportchefs versucht." Aogo selbst hatte noch Ende Mai beim Vergleich seiner beiden Ex-Vereine Hamburg und Stuttgart analysiert, dass der HSV „etwas gefestigter" wirke. Beim HSV, so sagte der 33-Jährige damals aber auch, „hast du als Profi definitiv den größeren Druck". Vielleicht schafften deshalb letztlich die Schwaben als Zweiter den direkten Aufstieg.
Und der Druck wird ja nicht kleiner. Das Echo aus den Medien war nach dem Sandhausen-Debakel schon heftig. „Das ist der tiefste Tiefpunkt der HSV-Geschichte!", schrieb die Hamburger Morgenpost. Das „Abendblatt" schrieb vom „Gruseln mit dem HSV" und einem „erschütternden Saisonfinale, das dramatische Folgen haben wird". Fakt ist: Der im Frühjahr geschasste Ex-Vorstandschef Bernd Hoffmann hatte im vergangenen Jahr vom „überflüssigsten Nicht-Aufstieg der Fußballgeschichte" gesprochen. Und dieser jetzt war wahrscheinlich noch überflüssiger.
Es ist eben immer sehr emotional rund um die großen Traditionsvereine in großen Städten. Und das macht die rationale Saison-Analyse so schwer. Schon am Tag nach dem Sandhausen-Debakel kamen die Nachrichten, dass Hauptsponsor Emirates nach 14 Jahren seine Klausel zum Ausstieg bei Nichtaufstieg nutzen und auch Mäzen Klaus-Michael Kühne aussteigen werde. Mit beiden gebe es noch Gespräche, erklärte ein HSV-Sprecher. Fix war wenige Tage später aber der Abschied von Trainer Hecking. Mit seiner Arbeit waren sie die meiste Zeit der Saison zufrieden, doch nun war er eben ein Gesicht „dieser Mutter aller Demütigungen" (Bild). Und gleichzeitig hatte der erfahrene Coach offenbar Zweifel, einen aufstiegsreifen Kader zur Verfügung zu haben. Nachfolger von Dieter Hecking beim Hamburger SV wird Daniel Thioune. Der 45 Jahre alte Thioune arbeitete seit 2013 für den VfL Onsabrück und wurde bereits vor einem Jahr beim HSV gehandelt, ehe die Entscheidung auf Hecking fiel.
Der Aufstieg wird kein Selbstläufer
Die Kader-Zusammenstellung wird für den neuen Coach in der Tat nicht einfach. Herauszufinden, wo man wirklich den Hebel ansetzen kann, ohne im Anflug von Aktionismus die Dinge zu zerstören, die lange Zeit gut waren, ist keine leichte Aufgabe. Fakt ist: Egal, wie der HSV sich aufstellt – ein Selbstläufer wird der Aufstieg auch im kommenden Jahr nicht. Nicht nur, weil es eben zweimal lange gut lief und dabei Gedanken ans zweimalige letztliche Scheitern durchaus Wegbegleiter sein könnten. Die Zweite Liga wird im kommenden Jahr auch nicht schlecht aufgestellt sein. Fastaufsteiger Heidenheim, die Absteiger Düsseldorf und Paderborn, die im Saisonfinale erstarkten Hannoveraner, vielleicht Darmstadt oder die nach der Corona-Pause so starken Bochumer als Geheimtipps – da dürfte es schon einige Rivalen geben. Rivalen, die wie Bielefeld und Heidenheim in dieser Saison oder Paderborn in der letzten zumeist mit weniger Druck, ja vielleicht sogar mit der Attitüde, nichts zu verlieren zu haben, rangehen können.
Beim HSV darf sich dagegen kein Trauma entwickeln. In der Bundesliga galt der stolze Club während des jahrelangen Abwärts-Trends fast schon als unabsteigbar, rettete sich sogar zwei Mal in der Relegation. Nun muss der HSV aufpassen, dass er nicht als unaufsteigbar gilt und zum Zweitliga-Inventar wird.
Mit Präsident Marcell Jansen und Sportchef Boldt stehen immerhin zwei Personen in der ersten Reihe, die der Hektik und Panikmache unverdächtig sind. Doch Rekordnationalspieler Lothar Matthäus stellte in einer Sky-Kolumne auch Jansen infrage. „Ich habe wirklich nichts gegen Marcell Jansen. Das ist ein netter Kerl", schrieb Matthäus, übrigens vor dem letzten Spieltag. „Aber ein netter Kerl, der mit 29 Jahren aufgehört hat Fußball zu spielen und nun mit 32 Präsident ist. Ich mache ihm da überhaupt keinen Vorwurf. Das ist aus seiner Sicht ja eine unglaubliche Leistung. Wer wird schon mit 32 Jahren Präsident eines der größten Fußball-Clubs des Landes? Aber ist das der richtige Mann auf dem richtigen Posten?" Jansen, so Matthäus, sei „möglicherweise besser als eine Art Sebastian Kehl des HSV aufgehoben. Als Bindeglied zwischen Trainer und Team."
Andererseits hatte Matthäus in derselben Kolumne auch Führungskräfte mit Ahnung vom Fußball gefordert. Das ist Jansen sicher. Noch entscheidender als die sachliche Sommer-Analyse wird aber sein, den HSV sachlich und zielgerichtet durch die nächste Saison zu führen. Und das nicht über 31 Spieltage oder 32, sondern über 34. Damit Seelers Mutmaßung sich nicht langfristig bewahrheitet und der HSV tatsächlich irgendwann das Schicksal der Drittligisten Kaiserslautern oder 1860 München teilt.