Die Staatskapelle Berlin feiert in diesem Jahr ihr 450-jähriges Bestehen. Geplant waren zahlreiche hochkarätige Veranstaltungen, doch coronabedingt musste Vieles in den virtuellen Raum verlegt werden. Staatsopern-Chefdramaturg Dr. Detlef Giese im FORUM-Interview zur Geschichte des Orchesters und zur Planung für die kommenden Monate.
Herr Dr. Giese, die Staatskapelle Berlin feiert in diesem Jahr ihren 450. Geburtstag, und Sie als Chefdramaturg sind mittendrin. Generell sind Dramaturgen für das Zustandekommen einer Opernaufführung mitverantwortlich – Sie aber interessieren sich offenbar ebenso sehr für die Geschichte der Staatsoper Berlin.
Zu den Aufgaben und zum Selbstverständnis eines Dramaturgen gehört es auch, das kulturelle Gedächtnis eines Hauses am Leben zu erhalten. Und gerade die lange und reichhaltige Geschichte der Staatsoper Unter den Linden und der Staatskapelle Berlin lädt dazu ein, auf Entdeckungsreise zu gehen. Neue Daten und Fakten zu erschließen ist dabei ebenso interessant wie die Reflexion über bereits Bekanntes – jede Zeit und jede Person findet da ja ihren eigenen Zugang.
450 Jahre – das klingt imponierend. Ist die Staatskapelle damit das älteste deutsche Orchester?
Die Staatskapelle Berlin, die ja erst seit rund 100 Jahren so heißt und die vormals als Kurbrandenburgische beziehungsweise Königlich Preußische Hofkapelle existierte, gehört zu den Top Ten in Europa und der Welt, was ihr Alter betrifft. Es ist auch immer eine Frage der Definition, da die Musikensembles aus dem 16. Jahrhundert, die in München, Kassel, Dresden, Schwerin, Braunschweig und andernorts gegründet wurden, mit den heutigen Opern- und Sinfonieorchestern hinsichtlich ihrer Größe, Zusammensetzung und Funktion kaum etwas zu tun haben. Alle diese höfischen Gründungen waren wesentlich Vokalgruppen mit einigen Instrumentalisten, die zumeist zum Gottesdienst und zur Tafel zu singen und aufzuspielen hatten.
Warum leisteten sich damalige Herrscher überhaupt Hofkapellen? Aus eigener Freude an der Musik, für bestimmte Zwecke oder aus repräsentativen Gründen?
Die hauptsächliche Intention bestand in der Tat darin, die eigene Macht und Herrschaft mittels einer möglichst glanzvollen Hofmusik zu repräsentieren. Immer im Blick auch darauf, die Konkurrenten in Schach zu halten oder sogar auszustechen. Es war ein „Konzert der Mächtigen", der Kaiser, Könige, Kurfürsten und anderer Landesherren, das sich entfaltete, und jegliche Residenz erhielt ihre wahre Bedeutung durch prächtige Bauten und Kultureinrichtungen wie etwa einer leistungsfähigen Hofkapelle.
Wie müssen wir uns die Anfänge der Hofkapelle vorstellen?
In Berlin standen am Ende des 16. Jahrhunderts rund ein Dutzend Sänger sowie drei Organisten und ein halbes Dutzend anderer Instrumentalisten im Dienst des Kurfürsten, ausschließlich männliche Musiker. Neben den Tastenspielern gab es Trompeter und Pauker für zeremonielle Anlässe sowie einige wenige Streicher. Musik verlieh dem höfischen Leben Glanz. Die Gottesdienste – Kurbrandenburg war beizeiten protestantisch geworden – wurden dadurch bereichert, aber auch „Staatsbesuche" von Herrschern anderer Territorien damit ausgestaltet. Die europäischen Herrscher wetteiferten um besonders prominente Musiker, auch aus Gründen wechselseitiger Rivalität. So gelang es etwa dem Brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund, 1608 den berühmten Johannes Eccard als Kapellmeister nach Berlin zu holen. Auch der englische Gambenvirtuose William Brade kam an die Spree, obwohl er auch an anderen Höfen gefragt war.
Spielten die damaligen Herrscher selbst Instrumente wie später König Friedrich II. bei seinen Flötenkonzerten in Sanssouci?
Musikalisches Interesse und Talent waren bei den brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Königen sehr ungleich verteilt. Musik stand nicht an erster Stelle, wenn es um die Ausbildung eines Herrschers ging; nicht wenige haben sich aber sehr für eine hochstehende Musikkultur bei Hofe und für den Ausbau der Hofkapelle eingesetzt. Kurfürst Johann Georg I. im späten 16. Jahrhundert ist so ein Fall, auch der erste preußische König Friedrich I., dann natürlich der Flöte spielende Friedrich II., der „Alte Fritz" sowie dessen Neffe und Nachfolger Friedrich Wilhelm II. Ein Negativbeispiel indes ist der „Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I., der 1713 die Berliner Hofkapelle weitgehend auflöste.
Die Staatskapelle Berlin entstand aus der Kurbrandenburgischen Hofkapelle, wurde im 18. Jahrhundert zur Königlich Preußischen Hofkapelle und nach der Novemberrevolution 1918 zur Staatskapelle Berlin. Da war sie bereits ein großes Opern- und Sinfonieorchester. Wie kann man sich das vorstellen?
Von weniger als 20 Sängern und Instrumentalisten der Anfangszeit wurde die Kapelle im frühen 17. Jahrhundert auf mehr als 30 Musiker vergrößert, bevor der Dreißigjährige Krieg einen tiefen Einschnitt brachte. Mit der Rangerhebung zu preußischen Königen entwickelten die Hohenzollern die Kapelle weiter, auf rund 50 Musiker. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, unter dem ersten „General-Music-Director" Gaspare Spontini waren es bereits 94 Personen, die im Orchester spielten, das man damit guten Gewissens auch so nennen darf. Im frühen 20. Jahrhundert, als man Oper und Sinfonik gleichermaßen spielte, waren es etwa 120 Mitglieder, heute gibt es in der Staatskapelle Berlin insgesamt 136 Planstellen.
Welche Instrumente gaben im Laufe der Jahrhunderte den Ton an? Und seit wann sitzen auch Frauen an den Pulten?
In der Gründungszeit waren es vornehmlich Sänger sowie ein kleineres gemischtes Ensemble aus Bläsern, Streichern und Tasteninstrumenten. Bedingt durch die stilistische Entwicklung der Musik dominieren seit dem 18. Jahrhundert die Streicher, die den Grundstock des Orchesters bilden. Frauen spielen im Grunde erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, wie etwa einer Harfenistin, die 1913 engagiert wurde.
Seit geraumer Zeit gehört die Staatskapelle Berlin zu den besten Orchestern weltweit. Bedeutende Dirigenten haben sie ab dem 20. Jahrhundert geprägt. Seit 1992 ist Daniel Barenboim der Maestro und außerdem Chef auf Lebenszeit. Hat sich unter seiner Stabführung der Orchesterklang verändert und eine besondere Färbung angenommen?
In der „Ära Barenboim", eine der bisher längsten in der Geschichte des Orchesters, hat sich die klangliche wie spieltechnische Qualität der Staatskapelle Berlin nochmals gesteigert. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die systematische Erarbeitung eines breit gespannten Repertoires der klassisch-romantischen Musik – von Mozart bis Strauss –, aber auch die intensive Beschäftigung mit der klassischen Moderne und der zeitgenössischen Musik. Aber auch die Auseinandersetzung mit der französischen, italienischen und russischen Oper. Die Staatskapelle ist imstande, einen ausgewogenen, vollen, runden Klang zu produzieren. Vor allem aber ist sie stilistisch enorm wandlungsfähig, bedingt durch ihre Doppelnatur, Opern- wie Sinfonieorchester gleichermaßen zu sein und trotz der Prägung durch Maestro Barenboim mit vielen weiteren herausragenden Dirigenten arbeiten zu können.
Bedingt durch die Corona-Pandemie musste auch dieses Orchester pausieren. Wie aber ist die finanzielle Situation der Künstler, vor allem die der Freiberufler?
Die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle sind in der glücklichen, privilegierten Lage, als festangestellte Kräfte finanziell abgesichert zu sein, auch in Zeiten der erzwungenen Pause. Seine freiberuflichen Aushilfen unterstützt das Orchester durch eine größere Spendensumme, da ohne diese Aushilfen die Aufführung vieler, zumal großbesetzter Werke und der umfangreiche Spielbetrieb nicht zu gewährleisten wären.
Auch die Staatsoper sowie die Staatskapelle haben den Shutdown mit zahlreichen Streams etwas überbrückt, darunter mit Opernaufführungen aus früheren Jahren. Wie kam dieses Angebot an? Was war besonders gefragt?
Am 12. März, kurz nach der durch die Politik verfügten Schließung der Opern- und Konzerthäuser, ist noch eine „Geistervorstellung" von Bizets „Carmen" in der Staatsoper Unter den Linden über die Bühne gegangen, dirigiert von Daniel Barenboim. Diese Vorstellung ohne Publikum ist vom Rundfunk Berlin-Brandenburg aufgezeichnet und gestreamt worden, mit großer Resonanz. Seit dieser Zeit hatten wir ein Video-on-Demand-Angebot mit Aufnahmen aus der jüngeren Vergangenheit, Oper wie Konzert. Unter anderem konnte man Musiktheaterwerke von Wagner, Mozart, Verdi, Tschaikowsky, Prokofjew ebenso kostenfrei von zu Hause aus hören und sehen wie Sinfonien und Klavierkonzerte von Bruckner, Brahms und Beethoven. Dieses sehr gut angenommene Format wurde dann durch Live-Darbietungen ausgeweitet. Ab Juni veranstaltete die Staatsoper im Rahmen eines digitalen Spielplans Programme mit Sängerinnen und Sängern, vor allem aber mit Mitgliedern der Staatskapelle Berlin, die ebenfalls gestreamt wurden, aus dem Saal der Staatsoper, leider immer noch ohne Publikum. Zu den Höhepunkten gehörten ein Liederabend am 19. Juni und eine Opern-Gala am 20. Juni mit Arien von Verdi, Bellini und Rossini, außerdem eine Darbietung von Saint-Saens’ „Karneval der Tiere" mit Daniel Barenboim und Thomas Guggeis am Klavier sowie Jan Josef Liefers als Erzähler.
Nun hoffen Musikfans, dass in der Woche vom 5. bis zum 12. September der 450. Geburtstag der Staatskapelle Berlin in der Staatsoper im Opernhaus und draußen auf dem Bebelplatz wie geplant gefeiert werden kann. Welches sind die Highlights, und was wird gratis geboten?
Der Auftakt der Spielzeit 2020/21 steht im Zeichen des 450-jährigen Jubiläums der Staatskapelle Berlin: Ein besonderes „Staatsoper für alle" ist für den 6. September in Planung. Unter welchen Bedingungen die Veranstaltung durchgeführt werden kann, wird derzeit geprüft. Unmittelbar davor ist an vier Abenden im Opernhaus eine Aufführung der Beethoven-Sinfonien Nr. 1 bis 8 vorgesehen, die Neunte wird dann open air erklingen.
Am 11. September findet das Festkonzert „450 Jahre Staatskapelle Berlin" statt, dirigiert von Generalmusikdirektor Daniel Barenboim. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Strauss, Pierre Boulez und die 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Außerdem kommt Jörg Widmanns „450 Takte", ein Auftragswerk anlässlich des Jubiläums, zur Uraufführung. Am 12. September folgt ein an die geltenden Sicherheitsmaßnahmen angepasstes Geburtstagsfest für das Orchester. An diesem „Tag für die Staatskapelle Berlin" werden die Musikerinnen und Musiker in wechselnden kammermusikalischen Formationen und kleinen Orchesterbesetzungen bei freiem Eintritt im Großen Saal zu erleben sein. Flankiert wird das Jubiläum durch weitere Angebote im Haus sowie durch eine Ausstellung zu „450 Jahren Staatskapelle Berlin" im Apollosaal.