Fynn Kliemann ist ein Hansdampf in allen Gassen: Webdesigner, Heimwerker, Autor, Schauspieler, Youtuber und vor allem Musiker. Auf seinem Hof Kliemannsland in der norddeutschen Provinz hat er jetzt das Album „Pop" eingespielt, welches er auf ungewöhnliche Weise vermarktet.
Fynn, an Ihrer neuen Platte „Pop" haben Sie ausschließlich nachts gearbeitet. Welche Vision hatten Sie von dem Album?
Es gab keinen Startschuss, sondern ich mache jeden Tag Mucke. Zu 99 Prozent produziert man Schrott. Irgendwann hatte ich 300 Songs aufgenommen, da war vielleicht eine Perle dabei. Wenn sich ganz viele verwertbare Töne, Sätze und Melodien angesammelt haben, denke ich, das könnte jetzt ein Album sein. Beim Musikmachen geht es nicht darum, irgendwelche Hits zu produzieren, sondern darum, Tasten zu drücken und ein schönes Gefühl zu haben. Manchmal habe ich an einem Abend ein Grundkonstrukt fertig, aber das Ausarbeiten von Songs ist die pure Hölle und dauert bei mir Wochen oder Monate, weil ich lethargisch am Fenster sitze. Wenn ich etwas angefangen habe, muss ich es aber zu Ende bringen. Einen ungeschliffenen Diamanten kann ich nicht liegen lassen.
Was bedeutet es, ehrliche Musik zu machen?
Jeder Song auf „Pop" hat einen direkten Bezug zu mir, ich kann keine fiktiven Geschichten schreiben. Das sind meine eigenen kleinen Geheimnisse. Je ehrlicher das ist, desto berührender der Song.
Wie definieren Sie Pop? Als Unterhaltungsmusik, die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gehört wird?
Es gibt dafür keine richtige Definition mehr, weil populäre Musik heutzutage genreübergreifend ist. Vieles, was man als Untergrund-Rap bezeichnet, ist eigentlich Pop. Englische Schlagerhits werden ins Deutsche übertragen und als Rap bezeichnet. Es bleibt aber Pop. Auch bei mir kommt hinten Popmusik raus.
Fangen Sie erst immer nach Einbruch der Dunkelheit an, sich mit Musik zu beschäftigen?
Nein. Ich habe ganz viele Jobs, da bleibt wenig Zeit fürs Musikmachen. Ich arbeite immer von acht Uhr früh bis ein Uhr nachts, sieben Tage die Woche. Danach habe ich Zeit für Musik und bin so aufgedreht von dem Tag, dass ich erst mal runterkommen muss. Dann mache ich manchmal stundenlang Musik. Was dabei entsteht, ist der Grundstein für jeden Song auf dem Album.
Wie viel Schlaf brauchen Sie?
Mal zwei Stunden, mal müssen acht her, damit ich überhaupt wieder gucken kann.
Was brauchen Sie zum Wachwerden?
Zwei schöne Tassen Kaffee. Bevor ich die erste trinke, hänge ich schon mit dem Handy eine Stunde im Bett und beantworte E-Mails. Dann stehe ich auf und trinke mit dem Laptop auf dem Schoß Kaffee. So zieht sich das durch den Tag. Von außen betrachtet ist mein Leben extrem langweilig. Ich sitze da und kommuniziere mit Menschen überall auf dem Globus.
Wie kam es zu dem Lied „Schmeiß mein Leben auf den Müll"?
Das ist ein Gedankenexperiment: Manchmal ist man so eingefahren in dem, was man macht. Dann habe ich das Gefühl, ich drehe mich im Kreis und müsste alles wegschmeißen und einmal richtig neu starten. Was würde es für mich bedeuten, wenn ich alles wegwerfe? Es müsste schon alles sein, damit man einen echten Neustart wagen kann. So kann ich auf keinen Fall ewig weiterarbeiten. Das funktioniert nicht. Mittlerweile leite ich acht Firmen. Dabei jede Woche noch nie dagewesene Ideen zu entwickeln, die jedes Mal ein existenzielles Risiko darstellen, ist irgendwann zu viel.
Was tun Sie, wenn Sie einen schlechten Tag haben, das Album aber dringend fertiggestellt werden muss?
Was mache ich dann? Ich ziehe das einfach durch. Es gibt natürlich auch Tage, die sind völlig scheiße und nerven von A bis Z. Das Leben besteht ja nicht nur aus tollen Situationen. Damit habe ich aber kein Problem, ich arbeite total gerne.
Haben Sie mit so viel Arbeitsaufkommen gerechnet, als Sie beschlossen, sich unabhängig von der Musikindustrie zu machen?
Ich hatte schon damit gerechnet, dass wir sehr viel zu tun haben werden. Aber vielleicht nicht mit so viel Arbeit.
Es grenzt an Wahnsinn, was in Ihrem Leben so alles passiert.
Was heißt Wahnsinn? Das ist mein Leben. Für mich ist es normal.
Wie hoch ist das Marketingbudget, das Sie sich für „Pop" selbst genehmigen mussten?
Es gibt keine Zahlen, wir machen immer, was wir wollen. Ich habe ein paar Mützen an Freunde geschickt. Wenn man das als Marketingbudget rechnen will… Es geht nur darum, was wir wollen oder was noch nie da war oder worüber sich die Leute freuen. Das bestimmt, was wir machen. In der Box, die wir hergestellt haben, ist zum Beispiel eine fair produzierte Regenjacke aus Portugal enthalten. Die kostet allein im Einkauf dreimal so viel wie eine normale Box inklusive der Musik. Wir wollen immer das Beste machen, was wir können. Wenn das so viel kostet, dann ist das eben so. Es gibt bei uns keine Rechnungen mit eingeplanten Gewinnspannen.
Was gibt Ihnen die Sicherheit, dass ein Projekt funktioniert?
Ich bin von skrupelloser Angstfreiheit. Es ist aber nicht so, dass ich denke, es wird auf jeden Fall funktionieren. Ich bin extrem selbstkritisch und zweifle an allem, aber man startet eh alles immer wieder neu. Alles, was man da so macht, auch finanzieller Natur, ist immer nur Pulver für die nächst Idee. Es ist nie so, dass irgendwas hängen bleibt.
Könnten Sie Ihre Songs eigentlich spontan performen?
Nein, gar nicht. Ich bin viel zu wirr im Kopf, als dass ich mir irgendwas davon merken könnte. Jedes Mal, wenn ich etwas von meinem Album spielen möchte, muss ich mir die jeweiligen Akkorde neu heraushören. Ich kenne auch meine eigenen Texte nicht auswendig. Bands proben über Wochen und Monate, ich aber sitze hier und bastele.
Angeblich haben Sie einen Auftritt auf der Hauptbühne bei Rock am Ring abgesagt, weil Sie nicht live spielen wollen…
Hauptbühne war es nicht, aber bei mir haben sich die Bookingangebote überschlagen. Da war alles dabei.
Haben Sie mit Gigs schlechte Erfahrungen gemacht?
Ich fühle mich dabei einfach scheiße. Ich habe Bühnenangst. Dieses Gefühl ist so schrecklich, dass ich mir eine Tour einfach nicht antun muss. Fertig. Viele Dinge, die ich in der Zeit tun könnte, finde ich deutlich besser. Und sei es, mit meinem Kumpel an meinem Mofa rumzuschrauben.
Für Ihre Tonträgerverpackung verwenden Sie Rohstoffe aus Wäldern und Plantagen, die nach strengen ökologischen und sozialen Prinzipien bewirtschaftet werden. Macht das Ihre Platten teurer als herkömmliche?
Wir verwenden das dickstmögliche Vinyl, haben Glanzlacke auf den Sachen und PEFC-zertifiziertes Papier. Unsere Vinyls sind Unikate. Das macht sie natürlich teurer. Aber der Verkaufspreis ist günstiger als bei den meisten anderen, weil wir keine Zwischenhändler haben. An einer normalen Produktion verdienen etliche Bereiche mit. Diese Ersparnis stecken wir ins Produkt. So kriegen die Leute für den gleichen Preis etwas Geileres.
Könnten Sie auch allein von den Streaming-Einnahmen leben?
Wenn man keine Zwischenhändler hat, kann man vom Streaming schon gut leben. Die meisten Künstler verdienen durch Streaming so wenig, weil bei denen ein Label dazwischen sitzt, das einen Großteil der Einnahmen schluckt. In meiner Größenordnung könnte ich wahrscheinlich vom Streaming leben.
Ihren Dokumentarfilm „100.000 – Alles, was ich nie wollte" konnte man nur an einem einzigen Tag im Netz sehen. 25 Prozent von jedem Ticket gingen an ein Kino, das der Käufer auswählen durfte. Wie viele Tickets wurden für die Premiere an einem Samstagabend verkauft?
119.000 und ein paar Zerquetschte. Aber mir wird es niemals um Erfolg gehen. Viel spannender finde ich, dass wir es geschafft haben, eine viertel Million Euro für Kinos einzuspielen. Das ist eine Hausnummer. Diese Idee hatte noch keiner auf der ganzen Welt. Zu beweisen, dass das funktioniert, obwohl wirklich alle Entscheider sagen, es geht nicht, macht mir mega Bock. Erfolg mit dem gleichen Konzept zu reproduzieren bedeutet langfristig Unabhängigkeit und ist der Grundstock für jedes Label auf der Welt – und genau das, was ich sterbenslangweilig finde. Ich will immer eins draufsetzen und Sachen anders machen oder neue Risiken eingehen. Deswegen habe ich auch so viele Berührungspunkte mit den verschiedensten Leuten. Auf der einen Seite machen wir Events und haben ein Café, auf der anderen Seite bin ich digital unterwegs und baue Shops. Bei Musik ist das Potenzial für eine Wiederholung jedoch spannend, weil es bei jedem Künstler anders ist. Da kann ich mir vorstellen, langfristig mehr zu machen.
Das Kliemannsland ist ein Gehöft irgendwo zwischen Hamburg und Bremen. Normalerweise pilgern Menschen aus ganz Deutschland zu Ihnen, manche bleiben einen Tag, andere Wochen oder Monate, um bei Projekten mitzuarbeiten. Verstehen Sie Kliemannsland als eine Gesellschaftsutopie?
Letztlich ist eine Utopie ja etwas, das nur in der Vorstellung existiert. Wir zeigen aber, dass es real funktioniert. Damit ist es eigentlich der Utopie entwachsen. Kliemannsland ist ein schöner Gegenentwurf zu dem, wie alle anderen ticken und funktionieren und miteinander leben. Nennen Sie es gerne Utopie, wenn es darum geht, das soziale Miteinander zu optimieren, auf eine ganz einfache, regellose Art und Weise. Letztendlich ist Kliemannsland ein Ort, an dem Menschen miteinander leben und sich gegenseitig helfen. Wenn das Dasein in der Welt komplizierter zu sein scheint, ist es vielleicht eine Utopie.
Wie viele Leute haben sich mittlerweile online als „Bürger" registriert, um Kliemannsland mitzugestalten?
Boah, so 65.000, 70.000. Wir können alle kontaktieren, das ist ja schon mal ein großer Punkt. Über unsere App Finder kann man sich Projekte angucken, für Dinge voten oder sich neue Projekte raussuchen, an denen man teilhaben möchte. Das ist im Moment natürlich sehr schwierig, aber normalerweise ist es der Kanal ins Herz des Kliemannslandes. Dafür braucht man einen Bürgerausweis.
Warum lehnen Sie eigentlich jegliche Werbeanfragen ab?
Natürlich werbe ich auch für Dinge, aber das sind meistens NGOs oder gute Ideen. Ich würde niemals für Geld Produktwerbung machen. Das finde ich einfach daneben. Ich versuche, mit Authentizität zu arbeiten und nur das zu empfehlen, was ich wirklich mag. Das muss unbedingt unabhängig von irgendwelchen Gefälligkeiten oder Zahlungen sein.
Welche Projekte haben Sie in nächster Zeit geplant?
Die Projekte laufen bei uns immer parallel. Das Hausboot wird gerade fertiggestellt und Kliemannsland zu einem „Disneyland" umgebaut. Unsere Produktionsfirma wird neu aufgestellt. Eigene Sendungen sollen produziert werden. Es wird nicht langweilig.