Wie ein Amphitheater wird der See von einer ebenso sattgrünen wie charakterstarken Bergkulisse umgeben. Eine Exkursion ins Hinterland und der weite Blick von den Anhöhen über die Borromäische Bucht mit ihren weltberühmten schwimmenden Gärten sind ein bereichernde Perspektivwechsel.
Giuseppe Lusetti streicht andächtig über eines der 107 steinernen Kettenglieder, die wie ein schweres Tapetenmuster an eine rote Wand genagelt sind. Die Steinschlange ist die kleine Schwester eines noch imposanteren zweiten Artefakts. Das umfasst ganze 239 Glieder und steht im Guinnessbuch der Rekorde. Die weltweit längste Steinkette misst stolze 29,3 Meter und konnte auf der Biennale in Venedig in ihrer schwergewichtigen Pracht bestaunt werden. „Das macht nur ein Verrückter", kommentiert der 83-jährige Künstler, den das Medium Stein bereits seit seiner Kindheit begleitet. Er gehörte zu der Zunft der letzten Picasas (Steinmetze) der Region des Ossolatals. Als seine Hände noch wollten, hat Lusetti sein Lebenswerk in jahrelanger Arbeit aus einem Granitblock gemeißelt. „Alle Glieder sind unlösbar miteinander verbunden. Durch einen falschen Griff kann der Stein brechen, und alles wäre umsonst gewesen", fügt er stolz an. Mittlerweile hat sich der späte Künstler mit der schlohweißen Haarpracht auf abstrakte Malerei spezialisiert.
In lebendigen Farbschattierungen ruhen die Werke auf Stativen und Wänden. Ein paar mehr Besucher strömen in seinen kleinen Werkraum im Fischerdorf Mergozzo, wenn einmal jährlich der Percorsi Trasversali stattfindet – ein Rundgang, der Einblicke in die von morbiden Gassen und dicken Gemäuern umrahmten Ateliers der lokalen Kunsthandwerker gibt.
Historischer Pfad der Steinmetze
Wer sich einen Eindruck machen möchte, wie der Stein früher seinen mühsamen Weg über die Berge gefunden hat, der wandere von dem kleinen Walddorf Montorfano über den historischen Pfad der Steinmetze Sentiero Azzurro bis Mergozzo. Der knapp sechs Kilometer lange Weg verläuft nahe des Lago Mergozzo im unteren Ossolatal – geologisch ein Altarm des großen Lago Maggiore. Am Ufer des kleinen Seebruders befindet sich eines der wenigen Sternerestaurants der Region. Im rundum verglasten „Piccolo Lago" verwöhnt der ehemalige Surfer und Zwei-Sterne-Koch Marco Sacco seine Gäste mit raffinierten Interpretationen der uritalienischen Nonno-Küche (Nonno bedeutet Großväter). Brot wärmt er auf Granit, Butter kühlt er auf Flusssteinen.
Ein architektonischer Zeitzeuge ist die romanische Granitkirche San Giovanni Battista aus dem 12. Jahrhundert. Die Kirche aus weißem Granit beherbergt ein im Boden eingelassenes frühchristliches Baptisterium (Taufbecken) aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., – einer der ältesten Funde aus Granit. Eingebettet in eine Talmulde am südlichen Ortsausgang ist sie der perfekte Ausgangspunkt für eine erste Kurzreise in die steinerne Vergangenheit. Archäologin und Leiterin des örtlichen Ecomuseo del Granito Elena Poletti zeigt im Nachbardorf auf einen Steintisch. Picasas haben eine Art Brettspiel hineingeritzt, um sich zu zerstreuen. Mit Eseln hatten sie den schweren Granit über den Sentiero über eine Art Naturrutsche transportiert. Nachfahren der grauen Lastentiere grasen heute friedlich in einem Gehege.
Der Nationalpark Val Grande ist ein wildes Wanderparadies
Bekannt ist die Region aber vor allem für die Farbe Rosa. Orthoklas-Kristalle – ein Feldspat – hat den Steinrelikten über Millionen von Jahren seine pudrige Farbe verliehen. Durch seine Festigkeit findet man ihn in Monumenten wie der Pariser Oper oder der Basilika San Paolo in Rom. Das berühmteste Rosa kommt aus Candoglia am Fuße des Nationalparks Val Grande – ein wildes Wanderparadies. Der unterirdische Steinbruch ist noch in Betrieb, für Besucher gesperrt liefert er heute noch exklusiv den edlen Stein für den Mailänder Dom.
Das jahrhundertelange Abbauen hat das Gesicht der Landschaft geprägt. Im industriellen Zeitalter wurde das Händische vom Sprengpulver abgelöst, das auf Bruchlinien keine Rücksicht nahm. Seit den 90ern gibt es noch 15 von 90 Steinbrüchen. Der nahe gelegene 1.500 Meter hohe Mottarone ist der höchste Berg der Gegend und ein echtes Epizentrum für den weißen, grünen aber vor allem rosa Granit und Marmor.
Mit der Seilbahn von Stresa geht es auf die luftige Naturterrasse. Hier genießt man einen 360-Grad-Blick über die Alpenkette (Monte Rosa / Pianura-Padana-Ebene) und die Sieben-Seenlandschaft von Piemont bis zur Lombardei. Von der zweiten Station erreicht man schnell den Berggipfel. Hier empfiehlt sich eine Tour mit dem E-Bike. Wer den beschwerlichen Weg der Steine zu Tale spüren möchte, gehe den sehr anspruchsvollen Wanderweg Sentiero Picasas. Der führt über den Monte Zughero über Geröll und bunten Stein tief hinein in das Bergbaugebiet des Monte Camoscio bis nach Baveno (vier Stunden/1.300 Hm / gutes Schuhwerk mitnehmen!).
Bodenschätze haben der Region einst zu Reichtum verholfen
Am Weg-Ende – mitten im Wald – zeigt ein Freilichtmuseum eine Fotoausstellung mit Einblicken in die harte Arbeit der Picasas. Camoscio ist der Hausberg der Stadt Baveno. Der nördlich über der mondänen Schmuckschatulle Stresa lokalisierte Ferienort ist neben seinem authentischen Charme die kulturelle Hauptstadt des rosa Granits. Die romanische Basilika Santi Gervasio e Protasio mit stolzem Campanile und ein von Granitsäulen gestützter Laubengang sind die Wahrzeichen der Gemeinde. Im Granit-Museum erfährt man, dass bereits 1490 n. Chr. der steinerne Schatz im Ossolatal abgetragen wurde. Übermannshoch präsentiert sich das „Streetartgemälde" des Künstlers Gilberto Carpo, das seit 1979 eine Hausfassade am Matteotti-Platz ziert. Es zeigt den Prozess der Steinbearbeitung in seiner ganzen schweißtreibenden Dimension. Die Lebenserwartung der hart arbeitenden Bergbauern, Grubenarbeiter und Zuschneider lag bei 55 Jahren. Das ist auch das Alter von Marcello Marchi. Über dem Eingang seiner Steinmetzerei prangt der in Stein gemeißelte Name „Polli Scultura". Ein Meer von glatt geschnittenen Steinplatten in verschiedenen Farbnuancen, Grabsteine und allerlei Skulptur umrahmen den Weg zur hohen Werkhalle. Seine Steinengel und Amphoren schmücken die feudalen Villen der nahen Umgebung.
2001 war der Mittfünfziger ins Heavy Stone Business eingestiegen und hat das fast 100-jährige, letzte und älteste Traditionsunternehmen übernommen. Ein weiß eingestaubter Jesus hängt in der Halle und wacht über die Hightech-Fräsmaschine. „Das traditionelle Prozedere ist aufwendig. Viel ist nicht mehr da vom regionalen Stein. Granit nähert sich jetzt preislich dem Marmor", erzählt Marchi. Er zeigt gern den krummwandigen Ausstellungsraum, in dem Figurien, Büsten und Fotos von der Blütezeit erzählen. Einst haben die Bodenschätze und ein gutes Gespür der Region zu Reichtum verholfen: Die betuchte Adels- und Bankiers-Familie Borromeo hatte den Zauber des westlichen Seeufers im 18. Jahrhundert entdeckt und auch den Bergbau forciert. Ihre prunkvoll angelegten Garteninseln Isola Madre und Isola Bella mit ihren barocken Villen und weiß bepfauten Fantasiegärten sind das blühende Wahrzeichen der Region. Im Palazzo Borromeo (Isola Bella) finden wechselnde Ausstellungen statt. Eine unterirdische Grottenlandschaft nimmt das Steinthema ornamental auf. Die dritte im borromäischen Insel-Verbund ist die idyllische Fischerinsel Isola dei Pescatori. Zur blauen Stunde werden auf der Seeterrasse des „Ristaurante Belvedere" die Felchen serviert, die die letzten Insel-Fischer frisch aus dem See geholt haben. Jede Fahrt mit den Fähren und Wassertaxis gleicht einer romantischen Bootstour. Ein floraler Insidertipp liegt am Ufer gegenüber: im 16 Hektar großen Botanischen Garten „Villa Taranto" in Verbania blühen mehr als 100.000 Pflanzen aus aller Welt. Im Ortsteil Pallanza reihen sich feudale Villen aus Stein und Schnörkel wie die Perlenkette einer feinen, älteren Dame – zeitlos, mondän und charmant morbide. Nach der steinernen Spurensuche belohnt das Liebliche der alles verbindenden Seenlandschaft. Der Dreiklang der Elemente macht diese Reise zu einem tief berührenden Erlebnis.