Corona ist nicht die erste Pandemie und wird wohl auch nicht die letzte bleiben. Im Mittelalter wütete die Pest, an der Spanischen Grippe vor 100 Jahren starben mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg.
Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte." Dieser Satz steht im Eingangskapitel eines 1947 erschienenen Romans, der in der Corona-Krise unserer Tage wieder zum Verkaufsschlager wurde: „La Peste" von Albert Camus. Es geht um den Ausbruch der Pest in der algerischen Küstenstadt Oran. Erst starben die Ratten, dann die Menschen. Die Novellensammlung „Il Decamerone" des Dichters Giovanni Boccaccio aus Florenz bietet die wohl anschaulichste Schilderung der Pest. Diese wütete zwischen 1347 und 1350 in ganz Europa und löschte innerhalb von vier Jahren mindestens ein Drittel der Bevölkerung aus. In der Hafenstadt Florenz mit ihren 120.000 Einwohnern raffte der Schwarze Tod im Frühjahr 1348 etwa 100.000 Menschen dahin.
Genuesische Schiffe hatten die Seuche damals auf das europäische Festland gebracht, wo sie sich rasch über Handelswege und Heereszüge ausbreitete. Weder Hafensperren noch fromme Gebete und Prozessionen konnten ihr Einhalt gebieten. Ärztlicher Rat versagte. Die Krankheit war hoch ansteckend. Sie befiel Junge wie Alte, Kranke wie Gesunde. Viele flüchteten in Panik vor den Kranken. Altgewohnte Bindungen gingen in die Brüche. Kinder ließen ihre alten Eltern im Stich, Priester ihre Gläubigen. Väter und Mütter verweigerten ihren Kindern die Pflege. Die meisten Kranken starben binnen drei Tagen nach Auftreten der typischen Pestbeulen. Die gehäuft auf den Straßen herumliegenden Leichen wurden auf Karren weggeschafft und in Massengräbern verscharrt.
Die Städte und Regionen Europas erlitten bis ins 18. Jahrhundert mehrere erschreckend verlustreiche Pestperioden. Bei der Pest in Marseille 1720 bedeckten Massen halbverwester, von Hunden angefressener Leichen die Straßen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung starb. Die Pesterreger wurden von der in Hauskellern und Kornspeichern lebenden Ratte über den Rattenfloh auf den Menschen übertragen. Weil man das nicht wusste, schlugen die meisten Schutzmaßnahmen wie Räuchern, Desinfizieren und Quarantäne fehl. Es war ein Kampf gegen Windmühlen.
Wohlhabende wie Boccaccio flohen mit Freunden in ihre Landvilla. Dort gab es genug Lebensmittel und Wein und Gelegenheit, sich zu amüsieren. Mit witzigen Geschichten, Gesang und Tanz – ein Vorläufer der „Corona-Partys" unserer Tage. Und ebenso riskant, denn die Pest war allgegenwärtig.
Blieb die Schuldfrage. Wie Pater Paneloux bei Camus hatte man schon früher Seuchen als Strafe Gottes für die sündige Menschheit gedeutet und mit Messen und Prozessionen Abbitte geleistet. Schnell waren auch zur Zeit der Großen Pest die Juden als angebliche Übeltäter ausgemacht. Man bezichtigte sie der Brunnenvergiftung und veranstaltete europaweit antijüdische Pogrome mit erschreckenden Gewaltexzessen.
Im 19. Jahrhundert wütete die Cholera in ganz Europa
Oft tragen Seuchen das Stigma des Fremden. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts breitete sich die hochansteckende Syphilis aus. Die rasch und tödlich verlaufende Geschlechtskrankheit war ein Mitbringsel im Gepäck der Matrosen des Amerika-Entdeckers Christoph Kolumbus. Sie trat unmittelbar nach den Feiern von dessen Rückkehr (1493) in Barcelona auf und durchquerte in Windeseile ganz Europa bis nach Asien. Spanische und französische Söldnerheere im Umfeld der Kämpfe um Neapel (1494) trugen zur Verbreitung der Seuche bei. Daher kommt hierzulande die Bezeichnung Franzosenkrankheit.
Die „Lustseuche" wurde zur Volkskrankheit, die Liste ihrer Opfer endlos. Darunter Renaissance-Größen wie die französischen Könige Karl VIII. (1498) und Franz I. (1547) sowie Heinrich VIII. von England (1547). Die Syphilis setzte dem geselligen Treiben in den Badestuben mit ihren lockeren Sitten ein Ende. Die Krankheit aber blieb. Noch im 19. Jahrhundert erlagen ihr auch viele namhafte Persönlichkeiten wie etwa die Schriftsteller Maupassant (1893) und Oscar Wilde (1900) oder die Maler van Gogh (1890), Toulouse-Lautrec (1901) und Gauguin (1903). Erst mit der Erfindung des Penizillin 1928 durch den Briten Alexander Fleming wurde die tückische Krankheit heilbar.
Die wohl am meisten gefürchtete Krankheit des 19. Jahrhunderts war die Cholera. Russische Truppen hatten sie um 1830 von Indien nach Europa eingeschleppt. Im Revolutionsjahr 1848 hatte London rund 15.000 Cholera-Tote zu beklagen. Besonders schwer traf die Cholera das Königreich Preußen. Allein 1866 kostete sie dort rund 114.000 Menschenleben. Die Verursacher der mysteriösen Krankheit waren noch unbekannt. Extremer Brechdurchfall trocknete den Körper innerhalb kürzester Zeit aus und führte durch Kreislaufversagen und Nierenkollaps zum Exitus. General von Clausewitz verfolgte 1831 im Osten Preußens das Vorrücken der Cholera. Besorgt schrieb er Ende Juli 1831 seiner Frau nach Berlin, der ungebetene „Gast" werde wohl bis Herbst eintreffen. Der Militärstratege hatte Recht. Zuletzt erlag auch er der Seuche. Das war am 16. November 1831. Am gleichen Tag meldete Goethe einem Freund den Cholera-Tod des Philosophen G. W. F. Hegel.
Im Frühling 1832 erreichte die Cholera Paris. „Ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung" mähte sie massenhaft Menschenleben nieder. Der Schriftsteller Heinrich Heine war für die „Augsburger Allgemeine" vor Ort. Er bezeugt, wie das bunt maskierte Volk bei riesigen Karnevalsumzügen die Angst vor der Krankheit verspottete. Bis die närrischen Maskenträger scharenweise zusammenknickten und „zu aller Welt Verwunderung" ein veilchenblaues Gesicht zum Vorschein kam: die Cholera.
50 Millionen Tote durch Spanische Grippe
Schlagartig verstummte der Spott. Heine berichtet von gespenstischen Szenen: von Totenstille in ganz Paris, von menschenleeren Boulevards, von todernsten Gesichtern. Auch von Säcken voller Leichen hörte man, von Lynchjustiz an vermeintlichen Giftmischern. 1884 gelang dem Bakteriologen Robert Koch der Nachweis des Cholera-Erregers: ein sich in verseuchtem Wasser ausbreitendes Bakterium. Dies war ein entscheidender Schritt zur Eindämmung der Krankheit. Die letzte schwere Cholera-Epidemie in Europa erlebte Hamburg 1892 mit rund 17.000 Erkrankten und mehr als 8.000 Toten. Grund für die anfänglich vom Senat vertuschte Epidemie waren unhygienische Lebensverhältnisse und ungesundes, der Elbe ungereinigt entnommenes Trinkwasser.
Zwischen 1918 und 1920 raffte die „Spanische Grippe" in Deutschland rund 426.000 und weltweit mindestens 50 Millionen Menschen dahin – und damit mehr Tote als der Erste Weltkrieg gefordert hatte. Amerikanische Soldaten, die 1917 in den Weltkrieg eingriffen, hatten das Virus nach Europa eingeschleppt. „Spanisch" nannte man die Grippe, weil nur im neutralen Spanien darüber berichtet wurde. Überall sonst verhinderte das die Militärzensur.
Unter den mehr als 600.000 Amerikanern, die ihr zum Opfer fielen, waren auffallend viele junge Erwachsene. Ihre Körper waren noch zu jung, um gegen das neue Virus ausreichend Abwehrkräfte entwickelt zu haben, vermutet der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart. Es war ein grausamer Tod. Die Infizierten starben an Sauerstoffmangel und akutem Lungenversagen. Die Truppenbewegungen des Weltkriegs und die Jubelfeiern Hunderttausender bei Kriegsende beschleunigten die Pandemie. Das hoch ansteckende Influenza-Virus wurde erst 1933 entdeckt. Zu spät für die unzähligen Opfer der Spanischen Grippe, darunter der junge Wiener Maler Egon Schiele (1918), der Soziologe Max Weber (1920) und der Unternehmer Frederick Trump (1918), Großvater des US-Präsidenten.
Aktuelle Pandemie forderte bislang fast 600.000 Todesopfer
Seit 1920 hielten weitere Epidemien die Welt in Atem. Die Asiatische Grippe (1957) und die Hongkong-Grippe (1968) mit weltweit etwa drei Millionen beziehungsweise in der Bundesrepublik 60.000 Toten, die Immunschwäche Aids (seit 1980) mit 36 Millionen Toten weltweit und mehr als 27.000 Toten in Deutschland. Dazu gehören ferner die Cholera in Haiti und Jemen (seit 2010 und 2017) mit mehr als 13.000 Toten sowie das Ebola-Fieber in Afrika (seit 2014) mit mehr als 12.000 Toten.
Schon in der Vergangenheit wurden neu auftauchende Bedrohungen der Volksgesundheit zunächst gern geleugnet, verharmlost oder verdrängt. Microsoft-Mitgründer Bill Gates hatte schon 2015 vor den Gefahren einer weltweiten Pandemie durch bis dahin unbekannte Viren gewarnt. Für diesen bedrohlichen Ernstfall seien wir nicht gewappnet. Die Befürchtung des Amerikaners bestätigt sich gerade dramatisch. Bis heute (Stand 21. Juli) sind weltweit mehr als 13,5 Millionen Menschen an Covid-19 erkrankt und fast 600.000 daran gestorben.