Guernsey ist die kleine verträumte Schwester der Kanalinsel Jersey. Zwischen Klippenpfaden und Sandstränden geht es familiär und gemächlich zu.
Der Schlüssel ist dünn und doppelt so lang wie ein Zeigefinger. Er scheint viel zu schmal für das Schlüsselloch. Doch er passt: Die uralte Holztür geht knarrend auf. Drinnen ist es dunkel und riecht nach 19. Jahrhundert. Aber das macht nichts. Das Gefühl, alleiniger Turmbesitzer mit Schlüsselgewalt zu sein, ist großartig. Auch wenn nur eine halbe Stunde für die Besichtigung vorgesehen ist. Die Zeit reicht, um in aller Ruhe die 98 Stufen der Wendeltreppe hinaufzusteigen, dabei das alte Wandgestein zu befühlen. Sich vorzustellen wie Königin Victoria in Reifrock und Pumps hier wohl hochgekommen wäre. Der Victoria Tower in St. Peter Port auf der Kanalinsel Guernsey wurde 1848 zur Erinnerung an ihren Besuch gebaut.
Oben auf der Aussichtsbrüstung kämmt ein frischer Wind die Haare aus dem Gesicht. Auf dem Meer wippen Segelboote in den Wellen. Neben dem Hafen liegt die Festung Castle Cornet wie ein Haufen unaufgeräumter Bauklötze. In der Ferne sind die Schwesterinseln Herm, Sark und Jersey zu erkennen. Reckt man den Kopf in den Himmel sieht man am Turm die „Gargoyles" – steinerne Wasserspeier mit hässlichen Fratzen. Schon im Mittelalter hat man sie als architektonisches Stilmittel verwendet, damit sie bösen Geistern den Spiegel vorhalten und sie damit vertreiben.
Guernsey wurde vor 6.000 Jahren vom englischen Festland getrennt. Durch die Nähe zum Meer und das Erleben seiner Naturgewalt hat sich der Glaube an Übersinnliches und Hexerei lange gehalten. Dem Mystischen widmet das Guernsey Museum im nahegelegenen Candy Park eine ganze Abteilung. Am Museumstresen gibt man auch den Turmschlüssel wieder ab. Die nächsten warten womöglich schon auf eine Besteigung.
Vor 6.000 Jahren vom Festland getrennt
Die familiäre Handhabung der Turmbesichtigung mit Schlüsselübergabe ist nicht die einzige Eigenheit der 78 Quadratmeter großen Insel im Ärmelkanal. Hier druckt man eigenes Geld (Guernsey-Pfund), hat eigene Briefmarken, besondere Einkommenssteuersätze und zum Teil eine eigene Gesetzgebung. Die Insel befindet sich in britischem Kronbesitz. Damit gehört sie weder zum Vereinigten Königreich noch zur EU. Ein Vogt verwaltet sie und ein Gouverneur vertritt die Königin repräsentativ. Es gibt kein Fast Food, kein Graffiti, keine Kriminalität. Ja, doch: Einmal klaute jemand einen Wolfsbarsch aus dem örtlichen Aquarium, um damit beim Fischfangwettbewerb anzugeben. Und manchmal parken die Leute falsch. Wer seinen Strafzettel nicht bezahlt, liest seinen Namen in der Tageszeitung.
Manches läuft streng britisch, anderes auf leichte französische Art. Denn die Insel war früher im Besitz des Herzogtums der Bretagne. Noch immer erzählen Türme, Festungen und Mauern von vergangenen Zeiten, als die Insel sich gegen viele Eindringlinge wehren musste. Wie als Zeichen des Friedens wachsen aber heute Blümchen aus den Mauern, darunter das weiß-rosa blühende St.-Peter-Port-Gänseblümchen, das nur hier vorkommt. Das milde Golfstromklima lässt Blumen und Gemüse prächtig gedeihen. In der Hafenstadt tummeln sich bunte Blüten in 1.100 Blumenkästen, die durch eine zehn Kilometer lange Leitung bewässert werden. In den Wäldern wachsen Teppiche aus Glockenblumen und an der Küste rangeln Ginster und wilder Knoblauch um die Vorherrschaft.
Auf schmalen Klippenpfaden kann man einmal um die ganze Insel wandern (60 Kilometer). Dabei brüllt die Gischt ihren Schaum an die Felsen und die Möwen zetern dazu. Der Wind föhnt dem Wanderer eine neue Frisur. Wer nicht mit dem Windchill-Effekt gerechnet hat und in zu dünner Kleidung unterwegs ist, kann an der Rocquaine Bay bei Le Tricoteur einen Pulli kaufen. Nicht irgendeinen, sondern den „Guernsey". Ein wind- und wasserabweisendes Original, das früher die Fischer trugen. Am Ärmel wurde damals das Familienmuster eingestrickt. Wenn das Meer einen Pullover anschwemmte, konnte man daran erkennen zu welcher Familie der verunglückte Fischer gehörte.
Zu Zeiten Admiral Nelsons gehörte sogar bei Soldaten ein solcher Pullover zur Winteruniform. „Waschen muss man ihn kaum, er ist aus Schurwolle und reinigt sich selbst", sagt John im Blaumann. Er hat ein rundes Gesicht und auf dem Kopf keimt englischer Rasen. Seit 39 Jahren stellt er die warmen Pullis an der Strickmaschine her. Anschließend werden sie an knapp zwei Dutzend einheimische Frauen geschickt. Per Hand ergänzen sie den Halsausschnitt und ein Unterarmstück, das für viel Bewegungsfreiheit sorgt.
Mit der Fähre zur Nachbarinsel Herm
Inzwischen hat sicher jeder Insulaner mindestens einen Guernsey im Schrank und die Aufträge kommen aus der ganzen Welt, selbst aus dem Königshaus und seit letztem Jahr verstärkt aus Japan, erzählt John.
Mit dem wohl wärmsten Pulli Europas traut man sich auch auf die Fähre zur Nachbarinsel Herm, die mit sechs weiteren Inselchen zu Guernsey gehört. Das Boot hüpft über die Wellen, und die Gischt versucht ihr Bestes, die Passagiere zu bewässern. Transportiert werden nicht nur Passagiere, sondern auch Lebensmittel. Am Anleger in Herm wartet ein Trupp Einheimischer, um beim Ausladen zu helfen.
Lesley Bailey begrüßt die Tagesgäste für einen Rundgang um die Insel. Sie hat schon ihr halbes Leben hier verbracht und betrachtet es als Glücksfall, vor 24 Jahren hierhergekommen zu sein, weil ihr Mann eine Stelle als Insel-Buchhalter bekam. „Unser Sohn hatte in England Probleme in der Schule. Hier ist er richtig aufgeblüht", schwärmt die 56-Jährige.
Kein Wunder, die Insel besteht zum Großteil aus Natur: In den kleinen Bade-buchten schwappt türkisfarbenes Wasser an feinsandige Strände. Auf vorgelagerten Felsen nisten Trottellummen und Papageitaucher. Ein Fasan flüchtet vor den Besuchern ins Gebüsch. Die Guernsey-Kühe sind weniger schreckhaft, sie freuen sich über ein Handvoll Gras. Ihre Milch enthält besonders viel Betacarotin. Daraus entsteht goldgelbe Butter, die oft als Souvenir im Gepäck landet.
Obwohl das Meer allgegenwärtig ist, hat nicht jeder ein Boot. Grund ist der gewaltige Tidenhub von bis zu zwölf Metern. „Fürs Bootfahren gibt es nur ein Zeitfenster von 5,5 Stunden und das Wetter muss passen", sagt Lesley. Fahrräder und Autos sind auf der Insel verboten. Wer es eilig hat, rennt oder nimmt den Traktor. Aber meistens hat man es nicht eilig. Für die Tagesgäste ist auch noch Zeit für einen Besuch der kleinen Kapelle, die vor knapp 1.000 Jahren von normannischen Mönchen gebaut wurde.
Es war auch ein im Exil lebender Mönch, der die Kleine Scherbenkirche in Vaux-Belets auf der Hauptinsel Guernsey baute. Sie ist eine der kleinsten Kirchen der Welt und ein echtes Schmuckstück – von außen und innen komplett mit Porzellanscherben dekoriert. Seit sie abzusacken droht, fließen die Spenden für ihre Renovierung. Dabei kam schon eine halbe Million Euro zusammen. Guernsey ist eben nicht nur was die Pflanzenvielfalt betrifft eine reiche Insel! Dem Victoria Tower fehlt zwar das Niedliche der Scherbenkirche, aber wenn er mal pflegebedürftig wird, gibt es sicher auch genügend Mittel für seine Frische-Kur.