Ende Mai flossen in Norilsk über 21.000 Tonnen Diesel in die Gewässer der Tundra und lösten damit den nationalen Notstand in Russland aus. Verantwortlich für die Katastrophe ist Nornickel-Chef Wladimir Potanin, er soll laut Präsident Putin nun auch die „freiwillige Entschädigung" zahlen. Ob die Kosten von rund 1,8 Milliarden Euro tatsächlich übernommen werden, bleibt dagegen fraglich.
Vor drei Jahren erhielt Yelena Kostyuchenko einen Journalistenpreis für ihre Reportage über die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen in Tschetschenien. Dafür reiste die langjährige Sonderkorrespondentin der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta" in den Nordkaukasus. Die Atmosphäre, die damals in Grosny vorherrschte – das ist die Hauptstadt der sich zwar auf russischem Boden befindenden, aber gleichzeitig von Russland autonomen Republik –, beschrieb die Journalistin in ihren späteren Interviews als einen Zustand von „beispielloser Angst". Das Land sei fest in der Hand von Putins Statthalter Ramsan Kadyrow, geprägt von Korruption und schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Menschen, die dort leben, seien von „Angst geleitet". Nur wenige persönliche Begegnungen waren bei dieser Reise möglich. Meistens schoben die Behörden jedoch schon vor den angedachten Treffen diesen einen Riegel vor und ließen die Interviews platzen.
Ähnliches empfand Yelena Kostyuchenko bei ihrer Reise in die Stadt Norilsk. Ende Mai traten aus einem Tanklager eines Kraftwerks nahe der sibirischen Stadt über 21.000 Tonnen Diesel aus und verschmutzten weite Strecken des Flusses Ambarnaja sowie den Pjassinosee. Die Tragweite der Ölkatastrophe war sogar auf Satellitenbildern zu sehen. „Das Ausmaß des Schadens an den arktischen Gewässern ist beispiellos", kommentierte der russische Umweltminister Dmitri Kobylkin laut Agentur Interfax die verheerende Umweltkatastrophe. Auch Präsident Wladimir Putin zeigte sich sehr besorgt und rief – anders als bei der Corona-Pandemie – den nationalen Notstand in Russland aus, um seinen Angaben zufolge mehr Ressourcen für die Aufräumarbeiten bereitzustellen.
Als Hauptursache für die Dieselkatastrophe nannte der verantwortliche Bergbaukonzern Norilsk Nickel, kurz Nornickel – das Kraftwerk mit dem defekten Tanklager gehört der Tochterfirma des Konzerns – die „abnormal milden Temperaturen". Der abtauende Permafrost hätte, nach Angaben des Konzerns, den Dieseltank in seiner Statik beschädigt, die stützenden Pfeiler wären „unerwartet" abgesunken. Dieses Absinken des Bodens führte letztendlich auch zum Leck am Reservetank. „Dabei sei tauender Permafrost in Russland als Problem nicht neu", betont Kostyuchenko im Anschluss ihrer Reise nach Norilsk. Ganze Städte werden auf Permafrost erbaut, sogar Eisenbahnschienen und Pipelines werden im ewigen russischen Eis verlegt. „Dieses Problem haben auch anderen Konzerne und Unternehmen", weiß die Korrespondentin. Allerdings würden sie dies anders anpacken.
Journalisten und Umweltschützer sehen in der Erklärung von Nornickel den Versuch des Konzerns, sich aus der Verantwortung zu ziehen. So würde der Tank noch aus der Sowjetzeit stammen und schlecht gewartet worden sein. Der russische Bundesdienst für Umwelt-, Technologie- und Nuklearaufsicht „Rostechnadzor" hätte beispielsweise seit 2016 keinen Zutritt zum Kraftwerk des Tochterunternehmens Nornickel gehabt. „Es hieß, dass das Kraftwerk seit über vier Jahren in Wartung ist", weiß Yelena Kostyuchenko. 2017 und 2018 warnte „Rostechnadzor" das Unternehmen sogar vor möglichen Problemen bei der Lagerung von Kraftstoff in den Anlagen des Kraftwerks. Gleichzeitig wird berichtet, dass die Kommission, die die Umstände des Unfalls mit der Verschüttung von Dieselkraftstoff in der Nähe von Norilsk untersuchte, Mikrorisse in einem anderen gefüllten Tank des Norilsk-Nickel-Unternehmens aufgedeckt hat.
Über die Notsituation aus sozialen Medien erfahren
Dieses Thema ist in Norilsk jedoch unerwünscht. Während ihrer Recherche stieß Yelena Kostyuchenko auf verängstigte Bürger und korrupte Behörden. „Mein Telefon wurde beispielsweise abgehört", behauptet die Korrespondentin. „Egal wo ich mich mit meinem Gesprächspartner verabredet habe, die Polizei war schon vor meiner Ankunft da." Auch die lokalen Journalisten teilen diese Erfahrung. „Meine Kollegen, die in Norilsk arbeiten, nannten die Stadt Nord-Tschetschenien", erzählt die Moskauer Korrespondentin bei der Pressekonferenz zum Abschluss ihrer Reise nach Nornilsk. „Sie haben nicht übertrieben. Dieses Gebiet ist einem Eigentümer unterstellt, einem Unternehmen und fest mit lokalen Strafverfolgungsbehörden verbunden."
Die Stadt Norilsk befindet sich rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises und ist damit die nördlichste Großstadt der Erde. Gleichzeitig ist Norilsk auch einer der weltgrößten Rohstofflieferanten. Über 80.000 der knapp 180.000 Einwohner leben hier von der Nickelproduktion. Hier ist auch der größte russische Bergbaukonzern Nornickel angesiedelt. Mit einem Jahresumsatz von knapp 13,6 Milliarden US-Dollar gehört er zu den profitabelsten Rohstoffunternehmen Russlands. Chef des Konzernes ist der einflussreiche Oligarch Wladimir Potanin. Gleichzeitig ist er auch der Vorsitzende der Interros-Holding, die große Anteile an Nornickel hält. Die russische Ausgabe des Magazins „Forbes" schätzt sein Vermögen auf rund 20 Milliarden Euro und kürt ihn damit zum reichsten Mann des Landes. Zudem gilt der Oligarch als enger Vertrauter von Präsident Wladimir Putin. Umweltschützer, Aktivisten und eine Handvoll kremlkritischer Journalisten unterstellen Potanin, einen Staat innerhalb der Region geschaffen zu haben. Dabei wären viele entscheidende Posten innerhalb der Stadtverwaltung mit ehemaligen Nornickel-Managern besetzt worden, um seinen Einfluss dort noch weiter auszuweiten.
Unklar bleibt, warum die Regierung erst nach zwei Tagen von der Umweltkatastrophe in Norilsk erfahren hatte. Auf Plattformen wie Youtube kursierten zu diesem Zeitpunkt längst Videos der verheerenden Öl-Decke, die sich rasant in den Gewässern der sibirischen Tundra verbreitet hatte. „Sollen wir über die Notsituation aus den sozialen Medien erfahren? Geht es Ihnen dort noch gut?", kritisierte Putin die langsame Reaktion des Kraftwerkbetreibers bei der Ende Mai eilig einberufenen Videokonferenz, die auch im Fernsehen übertragen wurde. Der Betreiber stritt zunächst alles ab. Man habe den Vorfall „rechtzeitig und korrekt" gemeldet. Erst mit den Aufräumarbeiten räumte auch Nornickel eigene Fehler ein. Mittlerweile steht eine – wie Putin sie nannte – „freiwillige Entschädigung" von 147,5 Milliarden Rubel, umgerechnet rund 1,8 Milliarden Euro, im Raum. Sie wurde von der russischen Umweltbehörde Rosprirodnadzor festgelegt. Nornickel muss sie tragen. Die Gesamtsumme der Entschädigung umfasst etwa das 15-fache des vom Unternehmen im Vorfeld kalkulierten Betrags. Für Konzern-Chef Wladimir Potanin sei die Summe jedoch zu hoch angesetzt, er wirft der russischen Staatsbehörde fehlerhafte Berechnung vor. Er würde die Kosten für die Sanierung der Umwelt gemäß den geltenden Rechtsvorschriften im vollen Umfang tragen und auch das Ökosystem des betroffenen Gebiets vollständig wiederherstellen. Dafür dürfe es aber keine verzerrten Annahmen geben, heißt es in einer Konzernmitteilung.
Während der Recherchearbeiten zu Ursachen und Folgen der Umweltkatastrophe wurden die Journalisten von „Nowaja Gaseta" zweimal festgenommen. „Gegen uns wurde insgesamt dreimal eine Anzeige erhoben", erzählt Yelena Kostyuchenko. Nur die Wenigsten trauen sich mit den Journalisten zu sprechen. „Und die, die sich dazu entschieden haben, wurden anschließen von der Polizei unter Druck gesetzt", wie die Sonderkorrespondentin in den anschließenden Telefongesprächen mit den Betroffen erfahren hatte.
Vor wenigen Wochen traten 45 Tonnen Flugbenzin aus
In der Sowjetzeit war Norilsk eine sogenannte gesperrte Stadt. Nur wer einen gültigen Passierschein hatte, konnte die Stadtgrenze überqueren. In den 90ern wurde dieser Status aufgehoben. Seit 2001 ist sie wieder für Besucher gesperrt, offiziell um Arbeitsmigranten fernzuhalten, denn die Gehälter sind hier höher, als in vielen anderen russischen Provinzstädten. Die Meinung der Umweltschützer und Aktivisten ist dagegen eine ganz andere. Die Grenzen seien geschlossen, um die zahlreichen Umweltschäden zu vertuschen, für die Nornickel verantwortlich sei.
„Und davon gibt es eine ganze Menge", weiß Yelena Kostyuchenko. Nach der Ölkatastrophe, die die ganze Welt in Atem hielt, berichteten eine Handvoll Journalisten und Umweltschützer – mit dabei war auch Yelena Kostyuchenko – über zahlreiche Missstände. „Ende Juni deckten wir beispielsweise auf, dass Nornickel verseuchtes Wasser ungefiltert in die Flüsse von Norilsk ableiten lässt", betont Kostyuchenko.
Parallel dazu wurde der russische Katastrophenschutz auf eine brennende Deponie mit Industriemüll aufmerksam, die nun auch von Nornickel beseitigt werden soll. Erst vor wenigen Tagen meldete der Konzern ein erneutes Leck in einer Pipeline, bei dem rund 45 Tonnen Flugbenzin ausgetreten sind. Dabei zeigte sich der Konzern mit dem Hauptsitz in Moskau ungewöhnlich transparent. Nur wenige Stunden nach dem Unfall klärte Nornickel über den Sachverhalt in einer Pressemitteilung auf seiner Internetseite auf.
Yelena Kostyuchenko bewertet diese Handlung als einen Tropfen auf den heißen Stein. „Was wir in Norilsk gesehen haben, war haarsträubend", schildert die Korrespondentin ihre Eindrücke. „Wir haben viele tote Bäume in der Region gesehen, manche waren sogar gelb-orange gefärbt." Viele Pflanzen würden in dieser Gegend nicht mehr wachsen. „Tiefer im Wald sind wir auf größere, übel riechende Tümpel gestoßen, die auch rötlich verfärbt waren." Für Kostyuchenko ist es klar: Die Havarie hat nichts mit einem Unglück zu tun. Vielmehr waren die Handlungen von Nornickel seit Jahren so geduldet worden. „Was uns erwartet, ist noch unklar", bezieht sich die Journalistin auf den ökologischen Zustand ihres Landes. „Alleine die Ölteppich-Beseitigung wird uns noch jahrelang begleiten. Und das ist erst die Spitze."