Europa kämpft gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie. In weiten Teilen der Welt geht es ums nackte Überleben. Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerk Misereor, befürchtet eine weitere Spaltung und große Flüchtlingsbewegungen.
Herr Spiegel, Sie haben in fast 40 Jahren Ihrer weltweiten Hilfsarbeit viele schwere Momente erlebt. Was ist mit Corona anders?
Das Virus ist für uns nicht die Hauptherausforderung, sondern vielmehr der Umgang damit. Wir haben seit Monaten keinen direkten Kontakt mehr mit unseren Standorten, können vor Ort nicht mehr arbeiten. Aber der persönliche Eindruck vor Ort ist auch wichtig für unsere Arbeit. Das heißt nun nicht, dass wir den Schilderungen in den Videokonferenzen mit unseren Partnern nicht glauben würden. Aber bei einem Vororttermin bekommt man immer besser einen Eindruck, welche Hilfe, die wir leisten können, besser ist. Also wir versuchen immer, in den Netzschalten herauszuhören, was jetzt wo angebracht ist, aber als Bischöfliches Hilfswerk ist der direkte menschliche Kontakt immer sehr hilfreich.
Das größte drohende Problem ist der Hunger, der jetzt vermutlich wieder ansteigen wird?
Leider wird der Hunger nicht nur vermutlich ansteigen, sondern er steigt derzeit wieder an. Wir gehen davon aus, dass die Zahl um circa 130 Millionen ansteigen wird, aber es gibt auch Befürchtungen, dass es weit mehr Menschen sein könnten, die vom Hunger bedroht sind. Wir haben derzeit ungefähr 690 Millionen Menschen, die unter Hunger leiden …
… was ja seit Jahren ein Erfolg auch ihrer Arbeit ist, denn die Zahl der Hungernden lag zum Jahrtausendwechsel bei über einer Milliarde Menschen …
… richtig. Wir haben es geschafft, den Hunger erfolgreich bekämpfen zu können, doch die Corona-Pandemie wirft uns hier in unserer Arbeit um Jahre, vermutlich Jahrzehnte zurück. Das zeigt, wie verletzlich, wie fragil unsere Hilfsprogramme sind.
Woran liegt es, dass ein Virus so abrupt wieder für eine Explosion der Hungernden sorgt?
Sie dürfen eines nicht vergessen: Ein Sozial-, ein Gesundheitssystem wie hier bei uns in Europa gibt es annährend nirgendwo auf der Welt. Sie haben es in weiten Teilen Südamerikas, Afrikas, Asiens, aber selbst in den USA mit Tagelöhnern zu tun. Also mit Menschen, die morgens noch irgendetwas zu Essen haben und dann losmüssen, sich eine Beschäftigung suchen, um abends wieder Nahrung kaufen zu können. Nur die Nahrung verschlingt dann ihre Tageseinnahmen. Kommt dann ein Lockdown, also eine Ausgangssperre, dann können die Tagelöhner gar nicht erst losgehen und sich einen Job suchen. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass es diese Jobs gar nicht mehr gibt. Aber die Menschen dürfen ihre Behausungen nicht verlassen. Wir bekommen beinahe täglich aus Brasilien, dem Sudan oder den Philippinen Hilferufe: Wir haben Hunger!
Also ist eigentlich nicht die Corona-Pandemie das Problem, sondern der Lockdown?
Das trifft auf jeden Fall für den afrikanischen Kontinent zu. Dort gibt es keine funktionierende Infrastruktur in beinahe keinem Land. Dort gibt es nur die Solidarität untereinander und unsere Hilfe. Doch wenn nichts mehr da ist und wir an die Leute nicht mehr rankommen, weil es zum Teil schon die Transportkapazitäten gar nicht mehr gibt, dann wird es für die Menschen dort lebensgefährlich. Sie dürfen nicht in das nächste Dorf oder die Stadt gehen, um dort nach Arbeit zu suchen. Wissen Sie, ich bin Theologe und habe in meinem Leben zwei Sachen gelernt, die absolut sind. Das ist Gott und der Hunger. Wenn Menschen Hunger haben, dann nehmen sie keine Rücksicht mehr, denn es geht ums eigene Überleben. Darum müssen wir jetzt schnell das Problem des Hungers in den Griff bekommen. Denn wo Hunger herrscht, kann es keinen Frieden geben.
Das heißt, wir hier in Europa diskutieren über nachhaltige, umweltorientierte Corona-Hilfen, während vermutlich über ein Drittel der Weltbevölkerung zusehen muss, überhaupt zu überleben?
Genau das ist das Problem. Wir müssen also sehen, dass wir von Europa aus unsere Hilfen so steuern, dass wir zuerst den Hunger bekämpfen, und dann können wir auch mit Umweltprojekten beginnen. Aber wir brauchen ein Konzept gegen Hunger und Durst, denn man darf nicht vergessen: Die zweite große Geisel der Menschheit ist der Mangel an sauberen Trinkwasser. Ohne ein Konzept dafür brauchen wir den Menschen in den betroffenen Staaten nicht mit Umweltschutzmaßnahmen kommen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Nichts liegt mir näher als die Erhaltung der Schöpfung. Aber allein damit werden wir die hungernden Menschen in der Welt nicht erreichen. Zur Schöpfung gehört schließlich auch, dass alle Menschen genug zu essen und trinken haben.
Aber in Ihrer Analyse leiden ja auch weltweit die Menschenrechte durch die Corona-Maßnahmen?
Essen und Trinken sind das erste Menschenrecht. Aber Sie haben recht, auch die Freiheitsrechte der Menschen werden massiv beschnitten. So werden die Freiheitsrechte der indigenen Völker in der Amazonasregion in Südamerika massiv beschnitten. Das gleiche gilt in Asien für die Philippinen, Kambodscha, Myanmar, Indien. Dort ist praktische Menschenrechtsarbeit nicht mehr möglich, immer unter der Vorgabe, dass die Pandemie-Bestimmungen eingehalten werden müssen, was aber zu einem nicht geringen Teil vorgeschoben ist. Also auch wir als Misereor werden dort behindert. Das ist ja auch derzeit gar nicht mehr so schwer, allein schon aufgrund der massiven Einreisebeschränkungen. Wie ich schon gesagt habe, es ist immer wichtig, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sprechen, um zu erfahren, was in den Ländern wirklich los ist.
Wie lange, glauben Sie, wird dieser Zustand anhalten?
Wir arbeiten sehr eng mit dem Tropeninstitut in Würzburg zusammen. Ich habe kürzlich mit einem der Leiter dort gesprochen, genau über die Frage, wie lange dieses Arbeiten unter schwierigsten Umständen für uns noch anhalten wird. Die ernüchternde Antwort: Die kommenden fünf bis sechs Jahre wird uns Corona beschäftigen! Selbst wenn ein Impfstoff gefunden wird, ist diese Krise nicht vorbei. Eventuell kriegen wir das hier dann in Europa und den USA in den Griff, aber dieser Impfstoff ist doch nicht unverzüglich weltweit überall verfügbar. Dann geht es um die Frage, welches Land bekommt ihn am schnellsten. Da braucht es keinen besonderen Weitblick, dass die Industriestaaten mit ihrem vielen Geld zuerst den Impfstoff flächendeckend einsetzen werden können. Damit droht ganz klar die Gefahr, dass diese Schwellen- und diese Entwicklungsländer noch weiter ins Hintertreffen geraten. Der Corona-Impfstoff, wenn es ihn dann gibt, könnte das Potenzial haben, die Welt erneut zu spalten.
Und das wieder in den bekannten Strukturen?
Ich befürchte, nicht mehr in West und Ost, sondern in Schwellenländer und Industrienationen. Also China, die USA und Europa werden genügend Geld haben, um den Impfstoff schnell für die eigene Bevölkerung anzuschaffen. Die Regierungen der Entwicklungs- und Schwellenländern können das nicht. Was folgt? Die Menschen aus diesen Ländern, in denen weiter Hunger herrscht, werden versuchen, in die Länder mit Impfstoff und einer Aussicht auf Überleben zu flüchten. Das heißt, wenn der Corona-Impfstoff nicht gerecht in der Welt verteilt wird, kommt eine neue Flüchtlingsbewegung in Gang, die alle bisherigen in den Schatten stellt. Bereits heute sind 80 Millionen Menschen auf der Flucht.