US-Präsident Donald Trump schürt Konflikte, um sich als Retter zu inszenieren
Schüsse peitschen durch die Straßen, Tränengasschwaden steigen in den Nachthimmel auf. Sicherheitskräfte des Bundes gehen plötzlich mit Pfefferspray auf Demonstranten los. Sie tragen Helm, Maschinengewehr und grünbraune militärische Tarnuniform. Sie sehen aus wie schwer bewaffnete Soldaten aus der „Operation Iraqi Freedom", der Irak-Invasion der Amerikaner im März 2003. Die meisten Protestler rennen zurück. Einige bleiben liegen, mit geschwollenen Augen, gelähmt von einer Ladung Reizgas. Es sind Szenen wie in einem Bürgerkrieg oder aus einem Science-Fiction-Film.
Was sich in den vergangenen Tagen in Portland im US-Bundesstaat Oregon an der Westküste abspielt, ist kein Leinwand-Ereignis. Ähnliche Zusammenstöße gibt es in Seattle, Los Angeles, Oakland, New York, Omaha oder Richmond. Es sind Bilder des Krieges in Amerikas Städten. Portland hat sich zu einer Art Epizentrum der politischen Erschütterungen entwickelt.
Wer derzeit einen Blick auf die Vereinigten Staaten wirft, kann nur zu einem Schluss kommen: Das Land ist aus den Fugen, die ehemalige Führungsmacht des Westens nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die US-Administration, deren Präsidenten einmal für Freiheit und Demokratie standen, ist moralisch kollabiert.
Präsident Donald Trump heizt nicht nur das politische Klima durch eine Rhetorik der Spaltung an. Er gießt mit der neuesten Eskalation noch mehr Öl ins Feuer. Trump betreibt eine Militarisierung der Innenpolitik, indem er in Portland Ordnungshüter des Bundes gegen diejenigen aufmarschieren lässt, die exzessive Polizeigewalt auf der Straße kritisieren. Dabei wischt er das Veto der Gouverneurin und des Bürgermeisters – beides Mitglieder der oppositionellen Demokraten – beiseite. „Radikale Linke bekommen die Anarchie nicht in den Griff", poltert er.
So wie der Präsident nach innen auf Konfrontation setzt, so sehr baut er auch nach außen auf Feindbilder. Die aufstrebende Weltmacht China, die angeblich Informationen über das Coronavirus verheimlicht hat, gehört ebenso dazu wie der Iran oder – gelegentlich – das exportstarke Deutschland. Letzteres lässt sich an den US-Tiraden gegen das deutsch-russische Pipeline-Projekt Nord Stream 2 oder die Verfehlung des Zwei-Prozent-Ziels bei den Verteidigungsausgaben festmachen. Trumps Nein-Front hat nur einen Zweck: Mit dem Schlachtruf „America First" will er seine Wählerbasis mobilisieren. Weiße Männer – vor allem diejenigen ohne Hochschulabschluss – stehen dabei an vorderster Front. Aber auch evangelikale Christen springen auf die harschen Töne des Präsidenten an.
Die Bitterkeit, mit der Trump polarisiert, mag purer Verzweiflung entspringen. Denn Tatsache ist: Dem Chef des Weißen Hauses sind seine besten Trümpfe abhandengekommen. Er wollte als König der Wirtschaft und Meister der Börsenfeuerwerke in die Präsidentschaftswahl am 3. November ziehen. Vor der Corona-Krise lief alles nach Plan. Die Konjunktur war auf Trab, die Aktienmärkte jubelten, die Arbeitslosigkeit befand sich auf einem historischen Tiefststand.
Doch die Pandemie machte Trump einen Strich durch die Rechnung. Der Präsident leugnete die Ursachen, verharmloste die Seuche, klammerte sich gegen den Rat von Experten an eine Art Die-Erde-ist-eine-Scheibe-Theorie. Das Missmanagement der Krise vergrößerte die Unsicherheit im Land und beschleunigte den wirtschaftlichen Absturz. Kein Wunder, dass Trump in den Umfragen deutlich hinten liegt. Selbst in Wechselwählerstaaten, die er 2016 noch gewonnen hatte, führt sein demokratischer Herausforderer Joe Biden mit mehr als fünf Prozentpunkten.
Vor diesem Hintergrund zückt der Präsident seine letzte Karte. Es ist das Spiel mit der Apokalypse. Das Propaganda-Drehbuch lautet: Ich oder der Untergang. Recht und Ordnung oder Bidens Amerika – mit überbordender Kriminalität und Chaos. Trump, so scheint es, ist jedes Mittel recht, um das Land an den Abgrund zu manövrieren. Er provoziert gewaltsame Ausschreitungen, indem er Konflikte schürt, um sich als Retter zu inszenieren. Diskriminierung und die Dämonisierung von Konkurrenten sind Teil seines Instrumentenkastens. Bislang ist Biden gut damit gefahren, sich aus dem Feuer zu halten und abzuwarten. Eine Garantie, dass er so auch die Wahl in gut drei Monaten für sich entscheidet, ist das nicht.