Global laufen derzeit 160 Impfstoff-Projekte. Viele Experten gehen aber inzwischen davon aus, dass ein Vakzin frühestens 2022 verfügbar sein wird. Auch ein Scheitern der Impfstoff-Mission ist nicht auszuschließen, weshalb der Medikamentenentwicklung gegen die Virus-Erkrankung hohe Bedeutung zukommen könnte.
Die ganze Welt wartet sehnsüchtig auf die weiße Wolke aus den internationalen Forschungslaboren. Denn nur mithilfe eines wirksamen Impfstoffs wird sich die Corona-Pandemie stoppen lassen. Kein Wunder, dass das globale Wettrennen um das erste Vakzin im Kampf gegen Covid-19 immer rasantere Fahrt aufnimmt, wobei die Zahl der involvierten Pharma-Unternehmen und Forschungsinstitute sowie der Impfstoff-Projekte weiter ansteigt. Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) waren im Juli 2020 weltweit mindestens 160 solcher Projekte angelaufen. Diese suchen in einem früher unvorstellbaren Tempo nach Corona-Vakzinen. Es ist noch gar nicht lange her, da wurden von der Virusanalyse bis zur Zulassung eines Impfstoffs im Schnitt 15 bis 20 Jahre benötigt.
Bei Corona erwartet die Menschheit von der Wissenschaft hingegen Wunder, nicht zuletzt befördert durch vollmundige Ankündigungen vor allem des Populisten Donald Trump in seiner „Operation Warp Speed"-Rede, in der er die Markteinführung eines Impfstoffes noch vor Ende 2020 für möglich deklariert hatte. Das war allein schon angesichts der auch in der Corona-Krise zwingend vorgeschriebenen Einhaltung von medizinischen Erprobungsabläufen, beginnend mit Tierversuchen, gefolgt von drei klinischen Tests an einer wachsenden Zahl von menschlichen Probanden, als ziemlich unrealistisch einzuschätzen. Doch dank neuester Technologien, der Erkenntnisse, die mit Impf-Projekten gegen mit Corona verwandte Viren gewonnen werden konnten, der Kombination und zeitlichen Überschneidung der klinischen Testphasen und nicht zuletzt dank der weltweit von Regierungen oder Stiftungen zur Verfügung gestellten übersprudelnden finanziellen Fördermittel ist eine enorme Beschleunigung des Entwicklungsprozesses für ein Vakzin gegen Covid-19 möglich geworden.
Derzeit kann aber niemand genau prognostizieren, wann ein Corona-Impfstoff zur Verfügung stehen wird, Experten-Meinungen schwanken zwischen den Jahren 2021 und 2022. Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu bizarr an, dass sich einzelne Staaten mit den USA als unrühmliche Spitze jetzt schon Vorkaufsrechte für noch in der Erprobung befindliche Vakzine gesichert haben. Oder dass hierzulande Diskussionen über eine Impfpflicht angezettelt worden sind. Dabei ist übrigens kaum einzusehen, wieso ein Machtwort von Kanzleramtsminister Helge Braun gegen eine solche Impfpflicht gesellschaftlich einfach so widerspruchslos akzeptiert werden sollte. Schließlich hatte die Bundesregierung bei MMR (gegen Masern, Mumps und Röteln) eine gänzlich andere Entscheidung getroffen, die durchaus auch den Artikel 2 des Grundgesetzes, „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit", tangiert hatte. Und auch der Präsident des Weltärzteverbandes, Prof. Frank Ulrich Montgomery, hat sich für eine Impfpflicht gegen das Coronavirus ausgesprochen.
Zwischen 2021 und 2022 wird mit dem Vakzin gerechnet
Zumindest als ungewöhnlich einzustufen ist zudem der Sachverhalt, dass sich gut ein halbes Dutzend der Pharma-Unternehmen und Forschungsinstitute dazu entschlossen hat, ihre aktuell erst in der Erprobung befindlichen Impfstoffe bereits in riesigen Mengen zu produzieren, auch auf die Gefahr hin, dass die Ware entsorgt werden muss, falls die Studienergebnisse negativ ausfallen sollten. Auch die Hersteller von sterilen Ampullen haben sich längst für einen Auftragsansturm bereitgemacht. Schließlich muss für das potenzielle Impfmittel ja eine Verpackung in Milliarden-Auflage zur Verfügung stehen. Ob die Produktionsanlagen-Kapazitäten weltweit ausreichend groß sein werden, um im Falle eines Impfstoff-Treffers in kürzester Zeit gigantische Mengen des Vakzins bereitstellen zu können, wird abzuwarten sein.
Bei all dem durch vielfältig Versprechungen befeuerten Optimismus hinsichtlich eines Erfolgs der Corona-Impfstoffforschung wird oft viel zu wenig beachtet, dass es keinerlei Garantien dafür gibt, dass tatsächlich ein wirksames Vakzin gefunden werden wird. Auch ein Scheitern ist möglich, wie die Beispiele HIV, Dengue-Fieber oder Hepatitis C gezeigt haben. „Wir können nicht verlässlich davon ausgehen, dass überhaupt ein Impfstoff gefunden wird, oder – wenn er entdeckt wird – ob er alle Tests auf Wirksamkeit und Sicherheit bestehen wird", so David Nabarro, Professor für Weltgesundheit am Imperial College London sowie Sondergesandter der WHO für Covid-19. Ähnlich skeptisch äußerte sich der renommierte australische Immunologe Prof. Ian Fraser von der University of Queensland: „Wir müssen auch erkennen, dass es nicht immer möglich ist, einen Impfstoff zu bekommen, nur weil wir einen wollen."
Das hat inzwischen sogar schon die oberste Arzneimittelbehörder der USA namens FDA eingesehen und hält daher nicht mehr an der Vorgabe eines Super-Impfstoffes fest. Sie möchte schon die Zulassung eines Wirkstoffes absegnen, der bei mindestens 50 Prozent der Geimpften eine Infektion verhindern oder die Schwere der Erkrankung mindern kann. Auch der Virologe Prof. Oliver Keppler, Vorstand des Max von Pettenkofer-Instituts an der Ludwig-Maximilian-Universität München, räumte jüngst ein, dass es womöglich niemals einen hocheffektiven und sicheren Impfstoff gegen Corona geben werde: „Die Hoffnung auf einen solchen ‚Super-Impfstoff‘ zu setzen, ist aus meiner Sicht völlig überzogen. Wir müssen stattdessen darüber sprechen, ob wir Teilerfolge erzielen könnten. Ich bin relativ zuversichtlich, dass wir Impfstoffe bekommen, die für gewisse Personengruppen zumindest eine Teilimmunität hervorrufen werden. Dass also vielleicht die ganz schweren Infektionen wegfallen oder dass manche Menschen vielleicht ganz geschützt sein werden, andere nicht."
Dauer der Immunisierung noch fraglich
Etwas zuversichtlicher bezüglich eines wirksamen Impfstoffes äußerte sich Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt vom Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Medizinischen Universität Wien und Mitglied der Ständigen Impfkommission des RKI. Sie verwies aber darauf, dass sich das Corona-Virus doch deutlich von anderen Viren unterscheide, gegen die es bis heute keine Impfung gebe. Schließlich verursache Corona eine akute und keine lebenslange Infektion. Laut Prof. Wiedermann-Schmidt gebe es derzeit aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie die Immunisierung gegen das Coronavirus erreicht werden könnte, ob beispielsweise eine Impfung ausreichend sei oder ob es womöglich eine saisonale Anpassung wie bei den Vakzinen gegen die Grippe geben müsse. Auch völlig offen ist derzeit die Frage, in welchen Dosierungen ein möglicher Impfstoff verabreicht werden müsste und wie lange eine Immunisierung Ansteckungsschutz gewähren kann. Im Unterschied zu den HIV- oder Hepatitis-C-Viren hat sich das Coronavirus laut dem Virologen Prof. Friedemann Weber von der Justus-Liebig-Universität Gießen allerdings bislang deutlich weniger verändert, obwohl auch das Coronavirus sein Erbgut effizient umarrangieren könne.
In der besten aller Welten könnte das Coronavirus sogar auf ganz natürliche Weise einfach wieder verschwinden, wie es sein Vetter Sars-CoV 2004 vorgemacht hatte. Ex-WHO-Direktor Prof. Karol Sikora von der Universität Buckingham hält dies durchaus für möglich. Die vom RKI im April herausgegebene und seitdem von Politikern wortgetreu nachgebetete Maxime, dass eine Rückkehr zur Normalität nur mit einem Corona-Impfstoff möglich sei, hält Prof. Wiedermann-Schmidt übrigens für falsch. Damit würden nur Ängste in der Bevölkerung befeuert, obwohl es ja außer der Impfung auch noch andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gebe, beispielsweise die Entwicklung wirksamer Medikamente. Remdesivir, dank dem die Behandlungsdauer von Patienten im Krankenhaus nachweislich von 15 auf elf Tage verkürzt werden konnte, ist zwar derzeit der größte Hoffnungsträger, aber es sollten künftig auch noch andere Medikamenten zur Behandlung von Corona in allen Krankheitsstadien entwickelt werden können. Die Forschung arbeitet derzeit an der Repursing genannten Umwidmung von eigentlich für andere Krankheiten entwickelten Arzneien, die vornehmlich aus folgenden vier Medikamenten-Gruppen entstammen: antivirale Medikamente, dämpfende Immunmodulatoren, Medikamente für Lungenkranke und Herz-Kreislauf-Medikamente.
Derzeit werden in der Corona-Impfstoff-Forschung mindestens acht Typen von Vakzinen entwickelt und erprobt, was wegen der Unterschiedlichkeit der Ansätze die Chancen auf einen Erfolg deutlich erhöhen dürfte. Die meisten Projekte konzentrieren sich dabei auf drei Arten von Impfstoffen: Impfstoffe mit Vektorviren – bei ihnen werden harmlose Viren mit einem oder mehreren Genen des Sars-CoV-2-Oberflächenproteins verkleidet. Impfstoffe mit Virusproteinen –
sie enthalten entweder ausgewählte Corona-Virus-Eiweiße wie das Spike-Protein oder das gesamte Material inaktiver Sars-CoV-2-Viren. Impfstoffe aus Corona-Erbsubstanz – sie enthalten ausgewählte Gene des Virus in Form von mRNA (messenger RNA) beziehungsweise DNA. All diese Impfstoffe zielen darauf ab, den Organismus mit einem Antigen zu konfrontieren, das zwar keine Krankheit verursacht, aber eine Antwort und Aktivierung des Immunsystems hervorrufen soll. Ihre Wirksamkeit und Sicherheit muss in drei klinischen Phasen getestet werden, wobei in Phase 1 meist nur zehn bis 15 Probanden, in Phase 2 eine Gruppe von 50 bis 500 (aber auch schon mal 1.000) Personen und in Phase 3 einige Tausend beteiligt sind. In Phase 1 werden vor allem Sicherheit und Verträglichkeit sowie die Auslösung einer Immunreaktion überprüft. In Phase 2 geht es vor allem um die optimale Dosierung und das Vertiefen des Wissens um Verträglichkeit und Immunreaktion. In Phase 3, in der sich im Juli erst zwei Projekte befanden, wird allgemein die Zuverlässigkeit des Schutzes untersucht und genau überprüft, ob der Impfstoff nicht etwa ein lebensgefährliches „ADE" („Antibody Dependent Enhancement") auslösen kann, bei dem Antikörper nicht perfekt an die Viren anbinden, diese daher nicht bekämpfen und die Vermehrung der Viren sogar fördern können.
Wer das Rennen macht, ist bislang noch unklar
Wer am Ende das Rennen machen wird, ist derzeit noch völlig offen. Hoch gehandelt werden das von der US-Regierung massiv unterstützte Konsortium Moderna/Lonza, die Kooperation der Universiy of Oxford mit dem von Merck finanziell gepushten Astra Zeneca (3. Testphase), das vom US-Pharma-Riesen unterstützte Mainzer Unternehmen BioNTech, das Projekt des Tübinger Betriebs Curevac, die Arbeiten des US-Pharma-Konzerns Johnson & Johnson/Janssen, des Wuhan Institute of Biological Products (3. Testphase), des chinesischen Cansino Biologics, des Beijing Institute of Biological Products, des französischen Pharma-Giganten Sanofi oder des britischen Unternehmens Sinovac Biotech. Spannend und vor allem noch niemals beim Menschen angewendet ist der Einsatz des RNA-Impfstoffes, auf den sowohl Moderna als auch Curevac ihre Hoffnungen setzen. Höchst umstritten sind Überlegungen zu sogenannten Human Challenge Trials, bei denen Freiwillige zunächst mit einem Impfstoff-Kandidaten behandelt und anschließend ganz gezielt mit dem Coronavirus infiziert werden sollen. Mehr als 30.000 Menschen haben bereits ihre Bereitschaft für ein solch risikoreiches Unterfangen bekundet.