Zufällige Fehler im Gencode machen Viren für Menschen gefährlich. Dass sie von Tier zu Mensch übertragen werden, ist ein Nebeneffekt unserer Zivilisation. Heute muss sich die Welt darauf vorbereiten, Epidemien und Pandemien immer öfter zu begegnen, sagt Dr. Linda Brunotte vom Institut für Molekulare Virologie in Münster.
Frau Dr. Brunotte, in der Vergangenheit gab es schon öfter Epidemien und Pandemien. Wie wurden diese eingedämmt?
Abgesehen von Coronaviren haben Influenzaviren ein hohes pandemisches Potenzial, wie die Ausbreitung der Schweinegrippe im Jahr 2009 erneut gezeigt hat. Sorgen bereitete uns auch die sogenannte Vogelgrippe, also Influenzaviren des H5N1-Subtyps. Die Übertragbarkeit der Vogelgrippe zwischen Menschen aber hat sich bislang als sehr gering herausgestellt. Sars-CoV-2 aber ist da sehr erfolgreich. In der Vergangenheit hat man die Ausbrüche von Epidemien, die durch respiratorische Viren ausgelöst wurden, also der Vorstufe einer weltweiten Pandemie, ganz ähnlich bekämpft wie heute. Zum Beispiel gab es in China Flug- und Reiseverbote oder die Maskenpflicht. Damit konnten die Ausbrüche eingedämmt werden. Auch damals gab es keinen Impfstoff. Vielleicht, so hoffen wir, kommt man nun zu dem Schluss, dass man sich künftig besser vorbereitet, also frühzeitig in neue Infrastrukturen für die Herstellung von Impfstoffen investieren muss. Wissenschaftler warnen schon lange vor dem pandemischen Potenzial von Coronaviren und weisen auf die Notwendigkeit hin, Impfstoffplattformen dafür weiterzuentwickeln.
Aber die Impfstoffforschung gegen Sars-CoV-2 begann nicht bei null.
Genau, es gibt ein großes Vorwissen an etablierter Impfstofftechnik und es gibt einige erfolgsversprechende neuere Technologien. Die Frage ist immer, ob bei dieser Art von Virus eine bestimmte Impftechnik zu einer protektiven Antwort des Immunsystems führt, ob der Impfschutz lange hält und ob die Art, wie der Impfstoff hergestellt wird, auch massentauglich ist. Zum Beispiel ein Virus heranzuziehen, es abzutöten und dann als Impfstoff zu verwenden, ist ein großer Aufwand. Es gibt modernere Methoden, zum Beispiel für Influenza-Impfstoffe. 2009 aber haben wir gesehen, dass wir auch hier schnell an Kapazitätsgrenzen stoßen, wenn es schnell gehen soll. Denn dieser Impfstoff wird nach wie vor in Eiern produziert. Und Eier stehen uns nun mal nicht in unbegrenzter Zahl zur Verfügung. Nun gibt es neue Entwicklungen, basierend auf menschlichen oder Insekten-Zellkulturen – insgesamt über 200 Ansätze, wie Impfstoffe entwickelt werden können. Diese Technologien aber sind in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Und für jeden Impf-Ansatz muss immer wieder neu evaluiert werden, wie die Immunantwort des Menschen, die durch den Impfstoff hervorgerufen wird, aussieht, ob sie überhaupt vor einer Neuinfektion oder schweren Erkrankung schützt. Hier wird es klinische Studien geben müssen, die zeit- und kostenaufwendig sind, und die strenge Sicherheitsvorgaben haben. Idealerweise sollte schon eine Produktionsstrecke im Hintergrund aufgebaut sein, die den Impfstoff bei positivem Befund hochqualitativ und für die breite Masse der Bevölkerung produzieren kann.
Von welchem Zeithorizont reden wir, wenn es um einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 geht?
Von jetzt an gerechnet noch mindestens ein halbes Jahr. Derzeit laufen Tests von Forschungsgruppen wie auch von Unternehmen. Die Fortschritte werden sehr transparent kommuniziert, untereinander und auch mit der Öffentlichkeit, das möchte ich hier ganz positiv festhalten. Einige Impfstoffkandidaten sind bereits durch die klinische Testphase 2 durch. Das heißt, es wurde getestet, ob die Impfstoffe in gesunden Menschen sicher sind, wie sie dosiert werden müssen, dass eine Immunantwort im Körper hervorgerufen wird. Jetzt muss in Phase 3 in großangelegten Studien mit vielen Patienten die Verlässlichkeit der Immunantwort getestet werden und ob es Nebenwirkungen gibt. Diese Studien dauern sehr lange, sind komplex und mit hohen Sicherheitsstandards verbunden. Ein Problem bei diesem Virus bleibt, dass man kaum Vortestungen in Tiermodellen durchführen kann, da es nur wenig geeignete Modelle gibt. Denn die üblichen Testtiere, wie Mäuse, sind mit dem Coronavirus nicht infizierbar, da der Rezeptor auf den Zellen nicht vorhanden ist. Es gibt Methoden, transgene Tier-Modelle herzustellen, dabei werden die menschlichen Rezeptoren auf die Maus übertragen. Mit solchen Techniken wird man annäherungsweise sehen können, wie sich der Impfstoff im Menschen verhält. Dadurch werden Impfstoffe auch sicherer.
Es gibt Berichte, wonach Erkrankte nach kurzer Zeit wieder an Covid-19 erkranken. Ist das eine überraschende Entwicklung?
Überraschend wäre das nicht, denn es gibt tatsächlich Viren, die wiederholt einen Wirt infizieren können. Bei Sars-CoV-2 muss man die aktuellen wissenschaftlichen Berichte in einen Kontext setzen: Immunantworten des Menschen verändern sich nach der Erkrankung, der Körper fährt danach auch wieder herunter. Er ist nicht darauf ausgelegt, immer und jederzeit eine hohe Zahl von Antikörpern bereitzuhalten. Wenn die Krankheit überstanden ist, gehen die Antikörper naturgemäß zurück. Was aber wichtig wäre, ist die Frage: Haben wir ein Immun-Memory während der Infektion aufgebaut? Erinnert sich der Körper also an dieses Virus bei einer erneuten Infektion und kann rasch passende Antikörper bilden? Berichte, wonach es eine zweite Infektion von Covid-19 direkt nach der ersten gab, würde ich erst einmal mit Vorsicht bewerten wollen. Es ist fraglich, ob sich dies in großer Zahl bewahrheitet. Es gibt Viren, die die Lunge infizieren, aber keinen großen protektiven Schutz des Immunsystems hervorrufen, das heißt, sie können im Körper immer wieder auftauchen – im Übrigen auch eine mögliche Entwicklung von „erfolgreichen" Viren.
Wie schaffen es Viren überhaupt, vom Tier auf den Menschen übertragen zu werden?
Bei Tier-Pathogenen findet stufenweise eine Adaption statt. Wir dringen immer weiter in Bereiche der Erde vor, die wir vorher noch nicht bewirtschaftet haben, und schaffen so neue Schnittstellen zwischen Tieren und Menschen. Dabei kommen wir mit Tieren in Kontakt und damit auch in Kontakt mit neuen Pathogenen. Das Influenzavirus stammt beispielsweise ursprünglich aus Vögeln, erst durch Mutationen konnte es auf den Menschen übertragen werden. Dafür müssen Viren verschiedene Barrieren überwinden. Eine davon ist zum Beispiel die Bindung des Virus an den zellulären Rezeptor, der zwischen Tier und Mensch Unterschiede aufweisen kann. Wird das Virus in Wirte, zum Beispiel auch andere Tiere, übertragen, die einen Rezeptor-Typ haben, der dem des Menschen ähnelt, kann durch Mutationen eine stufenweise Anpassung an den Menschen stattfinden und eine Übertragung ermöglichen.
Wie funktioniert diese Übertragung genau?
RNA-Viren wie das neue Coronavirus Sars-CoV-2 haben ein großes Genom und ein großes Potenzial, ihr Genom und ihre Proteine zu verändern. Dafür bringen Sie ein Enzym mit, das ihnen die Vervielfältigung ihres Erbguts, also des viralen Genoms, in Zellen ermöglicht. Eine Besonderheit dieses hochkomplexen Enzyms ist seine hohe „Fehlerrate". Dadurch werden spontan Fehler ins Genom bei der Vervielfältigung eingebaut, und eben jene Fehler bieten dem Virus die Gelegenheit, sich zu optimieren und an einen neuen Wirt, wie etwa den Menschen, anzupassen. Zum Beispiel können die Oberflächenproteine des Virus optimiert werden, die ihnen erlauben, auch beim Menschen anzudocken. So findet eine natürliche Auslese der Viren statt, die sich dann erfolgreich weiterverbreiten.
Wird das Virus durch seine Mutationen schlimmer oder harmloser?
Das ist eine wichtige Frage, die derzeit intensiv in der wissenschaftlichen Gemeinschaft untersucht und diskutiert wird. Es ist zu beobachten, dass das Sars-CoV-2-Virus bereits Mutationen im Laufe der Pandemie eingebaut hat. Jedoch ist die biologische Bedeutung dieser Mutationen für die Pathogenität oder Übertragbarkeit bisher noch nicht aufgeklärt. Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass die Mutationen das Virus pathogener machen. Dies ist auch eher unwahrscheinlich, vielmehr findet wahrscheinlich eine Anpassung statt. Pathogener bedeutet, das Virus macht den Wirt kränker. Das sehen wir aktuell aber nicht. Wir stellen aber Mutationen fest, die sich stabilisieren: Sie verändern das Infektionsverhalten des Virus, das heißt, es verteilt sich erfolgreicher, macht aber nicht kränker und wird nicht tödlicher. Die Beweislage ist noch nicht sicher, aber es gibt Hinweise darauf, dass sich das Virus zum Beispiel besser im oberen respiratorischen Trakt, in Nase- und Mundraum, festsetzt. Dadurch kann es besser verteilt werden.
Werden wir uns nun auf mehr solcher Pandemien einstellen müssen?
Ja, ich denke schon. Aber wir sind in der Lage, Frühwarnsysteme zu etablieren. Wir sehen das bei Influenza beispielsweise. Dort schauen wir in den Virus-Wirten, welche Mutationen die Viren durchlaufen und welche sich durchsetzen und eine Anpassung an den Menschen ermöglichen könnten. Daraufhin testen wir deren pandemisches Potenzial. Dies ist alles natürlich nur ein Modell, aber diese Modelle sind mittlerweile sehr aussagekräftig. Diese Frühwarnsysteme können die Übertragung auf den Menschen nicht verhindern, aber sie helfen uns, uns darauf vorzubereiten und eine schnelle Ausbreitung des Virus, und vielleicht sogar eine nächste Pandemie, zu verhindern. Auch vor Coronaviren wurde lange gewarnt. Die aktuelle Pandemie sollte uns zum Umdenken anregen und den Aufbau von Produktionswegen für Impfstoffe in vielen Teilen der Welt anstoßen. Klar ist: Bei RNA-Viren, die sich stetig verändern, können wir keinen Impfstoff vorproduzieren und dann für den Fall der Fälle einlagern – dafür verändern sich die Viren zu schnell.