Die Sorgenfalten werden tiefer, die Proteste heftiger. Die einen fürchten eine zweite Infektionswelle mit dramatischen Folgen, die anderen halten alles für eine böse Erfindung.
Zu Beginn hatte alles noch den Anschein eines großen Nachholbedarfs. Als eine Art Happening aus nachgeholter Hexennacht und karnevalistischem Rathaussturm wären die sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen ja rein menschlich nach den extremen Einschränkungen noch nachvollziehbar gewesen, hätte es nicht von Beginn an den Versuch gegeben, sie zu okkupieren und zu instrumentalisieren. In der Entwicklung haben die Veranstaltungen inzwischen zunehmend einen Charakter entwickelt, über dem das Motto stehen könnte: „Verschwörungstheoretiker aller Länder, vereinigt Euch!“. Die Demonstranten rufen das „Ende der Pandemie“ und einen „Tag der Freiheit“ aus.
Faktenlagen scheinen wenig zu beeindrucken. Schließlich sind die nach Überzeugung eines beträchtlichen Teils der Teilnehmer ohnehin nur aus einer gesteuerten Interessenlage in die Welt gesetzt und die ganze Warnung vor einer zweiten Welle nichts anderes als der Versuch, die Daumenschrauben noch schärfer anzuziehen, um letztlich die ganze Welt in den Griff zu bekommen.
Im Rest dieser Welt jenseits derartiger Veranstaltungen spielt sich eine ganz andere Wirklichkeit ab. Fast täglich meldet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer neue Rekordzahlen an Infizierten und Todesfällen. An der Spitze die Länder, deren Führungsspitzen sich durch den beständigen Versuch einer Verharmlosung auszeichnen.
Die Demos wurden von Anfang an instrumentalisiert
Während hierzulande Demonstranten gegen bestehende Maßnahmen agitieren, wachsen in diesen Ländern Proteste gegen zu frühe Lockerungen und ein zu lasches Vorgehen. Schweden, das mit seinem Sonderweg im Umgang mit der Pandemie lange vielen als vorbildlich und damit als Gegenentwurf zu konsequenten Lockdown Strategien galt, musste sich inzwischen aufgrund der Entwicklungen korrigieren. In Spanien gelten mittlerweile die Regionen Katalonien, Aragón und Navarra als Risikogebiete und Barcelona als Hotspot, wobei sich die Lage zuletzt wieder leicht entspannt hatte. Für Luxemburg wurden zwischenzeitlich wieder Reisebeschränkungen, sogar Grenzschließungen diskutiert, weil auch dort die Zahlen wieder drastisch angestiegen sind. Dazu ist es aber nach den unguten Erfahrungen der zurückliegenden Monate nicht gekommen. Frankreich hat ebenfalls einige Lockerungen wieder zurückgenommen und Maskenpflicht für alle öffentlichen Räume angeordnet. In Deutschland hat sich RKI-Chef Lothar H. Wieler außerordentlich besorgt über die jüngsten Entwicklungen gezeigt: „Wir sind mitten in einer sich rasant entwickelnden Pandemie“
Während sich Karikaturisten über die „zweite Welle“ in humorvoller Heiterkeit auslassen, wird in Expertenkreisen darüber diskutiert, ob die neuerlichen Anstiege der Beginn der immer schon befürchteten zweiten Welle sind oder noch sozusagen Ausläufer der ersten Welle. Die Diskussion und Analyse darüber ist keine rein akademische, denn die Einschätzung dürfte nicht nur, sondern muss Auswirkungen darauf haben, welche Maßnahmen angebracht sind, um einen weiteren Anstieg zu verhindern.
Überwiegt die Einschätzung erste Welle, dürfte das wohl eher dazu führen, mit regional begrenzten Maßnahmen eine Eindämmung zu erreichen, verbunden mit der Überprüfung, wie wirksam die geltenden Maßnahmen dazu sind. Funktioniert beispielsweise die Nachverfolgung? Das hängt unter anderem damit zusammen, ob die Vorgaben wie etwa das Führen von Gästelisten konsequent eingehalten werden, aber auch, ob beispielsweise Gesundheitsämter personell und strukturell dazu in der Lage sind. Die Forderungen nach härteren Strafen bei Nichteinhaltung geltender Regelungen dürfte solange eher symbolisch bleiben, wie nicht gewährleistet ist, dass die Einhaltung überhaupt stringent genug überprüft und Verstöße im geltenden Rahmen auch konsequent geahndet werden. Geht die Einschätzung aber in Richtung Beginn einer zweiten Welle, werden nur lokal-regional begrenzte Maßnahmen alleine wohl keine ausreichende Prävention gewährleisten.
Überraschend kommen die Anstiege nicht. Schon im Zuge erster Lockerungen und dann erst recht in der Reisezeit ist damit gerechnet worden. Und jetzt steht mit der Wiederaufnahme des Schulunterrichts die nächste Herausforderung an. Das Problem derzeit ist, dass die Anstiege nur teilweise eindeutig zuzuordnen sind, was in der Vergangenheit beispielsweise bei Ischgl und Karnevalsumzügen, Großkundgebungen oder großen Sportevents zumindest im Nachhinein möglich war. Einigermaßen klar war auch, dass das Virus in seiner globalen Verbreitung Mutationen durchmachen und so eher an Hartnäckigkeit zulegen wird. Das macht im Übrigen die weltweite Suche nach einem wirklich wirksamen Impfstoff nicht einfacher.
Zweite Welle kaum zu verkraften
Nach den verheerenden Auswirkungen der ersten Welle mag sich niemand recht vorstellen, was eine zweite Welle mit all ihren Konsequenzen wirklich bedeuten würde. Ob die Gesellschaft eine Neuauflage der drastischen Maßnahmen verkraften und hinnehmen würde, wird vielfach bezweifelt. Befürchtet wird, dass sich das, was jetzt noch begrenzte und teilweise krude Proteste sind, in andere Dimensionen entwickeln könnte. Erst recht, wenn sich die wirtschaftlichen Entwicklungen drastisch verschärfen. Die bisherigen Gegenmaßnahmen haben bereits ein (finanzielles) Ausmaß, das in Deutschland zwar nach Einschätzung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) beherrschbar und vertretbar ist. Das aber eben nur, wenn es nicht zu einer zweiten Welle vergleichbarer Dimension kommt.
Für die Wirtschaft selbst, die sich zumindest in Deutschland wieder leicht berappelt, ist die globale Entwicklung entscheidend. Die Pandemie hat so ziemlich alle Schwachstellen der global vernetzten und arbeitsteiligen Weltwirtschaft aufgezeigt, mit den entsprechenden Konsequenzen für den „Exportweltmeister“ Deutschland, dem nicht nur Absatzmärkte weggebrochen sind, der auch seine extreme Abhängigkeit in bestimmten Bereichen von Importen und Lieferketten drastisch gespürt hat. Für eine Neuaufstellung war die Zeit noch zu kurz. Ganz abgesehen davon, dass die grundsätzlichen Fragen dahinter im Blick auf globalen Wirtschaftsstrukturen völlig ungeklärt sind – das allerdings auch schon lange vor Corona durch die Handelskonflikte und Verteilungskämpfe, die in der jüngsten Vergangenheit aufgebrochen sind.
Es bleibt also die permanente Abwägung von Maßnahmen, um die Pandemie zumindest im Griff zu behalten. Deutlich wird das auch in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts, das einen Eilantrag gegen die derzeit geltenden Maßnahmen zurückgewiesen hat. Die hätten zwar merkliche Folgen für die Lebensgestaltung, eine Aufhebung könne aber zu einem Anstieg der Infektionszahlen und damit zu Maßnahmen führen mit „härteren Grundrechtseinschnitten“ als die Befolgung der derzeitigen Maßnahmen. Die Entscheidung im Hauptverfahren steht zwar noch aus, aber die Begründung zeigt, was auf absehbare Zeit Herausforderung bleibt.