Eine unvergleichliche Auenlandschaft, Hanse- und Kaiserstädte – das Radeln durch die Altmark von Wittenberge nach Magdeburg ist etwas ganz Besonderes.
Eine Auenlandschaft wie diese gibt es in Deutschland kein zweites Mal: Endlose Wiesen, unterbrochen von Büschen, ein paar Bäume, dazwischen ein Roggenfeld, eingerahmt von Klatschmohn, irgendwo blinkt Wasser – ein Altarm oder ein kleiner See. Kein Motorengeräusch, keine Flugzeuge, keine Windräder. Die Stille wird nur unterbrochen durch quakende Frösche, den Ruf des Kuckucks, aufsteigende Lerchen, natürlich Krähen, und wer besonders gut hinhört: dem Geklapper der Störche. Nach drei Tagen Radreise durch diese Landschaft spürt man es: Sie belebt alle Sinne – riechen, schmecken, hören, sehen.
Die Auen der Elbe sind ein Rückzugsgebiet für seltene Pflanzen, Fische, Insekten, und vor allem Vögel: Kiebitze, Rotmilane, Neuntöter, Heidelerchen, Grasmücken, Brachvögel und über 200 andere mehr. Man muss nicht bis Hamburg fahren, um die Elbe kennen zu lernen. Ein Stück vom Mittelteil, von Wittenberge bis Magdeburg, genügt – die Altmark, so genannt, weil sie den Kern der späteren Mark Brandburg bildete. Man radelt durch ein zusammenhängendes Biosphärenreservat, das seinen Ursprung in der deutschen Teilung hat. Die Elbelandschaft war Grenzregion, scharf bewacht, kaum besiedelt und weitgehend sich selbst überlassen. Bis heute gibt es zwischen den Städten keine Brücken, nur Fährverkehr. Und auf den kann man sich nicht verlassen – manche Fähren blieben in diesen Coronazeiten am Ufer liegen, weil die Touristen ausblieben.
Die kleinste Hansestadt Deutschlands
Dabei sind die Radwege links und rechts der Elbe gut ausgeschildert. Das Problem ist, dass es so viele Möglichkeiten gibt: den kaum befahrenen Bundesstraßen entlang, mal linkselbisch von Dorf zu Dorf immer wieder über Kopfsteinpflaster, mal rechts über die endlos weiten Dämme. Die Geschwindigkeit ist zweitrangig, es lohnt sich, zwischendurch einen Beobachtungsturm zu besteigen, den der Nabu aufgestellt hat. Und wenn auf dem Damm die Schafe weiden, wird man sowieso ausgebremst – aber wo sieht man das noch: Dutzende Lämmer, die ihre blökenden Mütter suchen, ein Storch, der mitten in der Herde herumstakst und nach Insekten pickt, ein riesiger weißer Hütehund, der darauf trainiert ist, es sogar mit einem Wolf aufzunehmen.
In der Ferne ragen Kirchtürme aus dem leichten Dunst, der auf den Wiesen liegt. Die nächste Siedlung kündigt sich an. Es sind Dörfer wie Werben, kurz vor Havelberg, wo man auf keinen Fall einen Besuch des Doms versäumen sollte. Tausend Jahre alt ist Werben die kleinste Hansestadt Deutschlands, mit nur knapp 800 Einwohnern, aber dafür einem imposanten Gotteshaus: der St. Johanniskirche. Markgraf Albrecht der Bär (auf den wir noch zurückkommen) hatte im Jahre 1160 dem Johanniterorden Land in Werben geschenkt. Der Orden, mit der Christianisierung der ostelbischen Slawen beschäftigt, errichtete hier seinen Stützpunkt, zu der eine spätromanische dreischiffige Basilika gehörte. 300 Jahre später wurde auf der romanischen Bausubstanz eine hochgotische Kirche aufgesetzt – mit hohen lichtdurchfluteten Fenstern, einem vergoldeten Marienaltar und dem polygonalen Chor.
Acht Städte in der Altmark entlang der Elbe gehörten wie das kleine Werben einmal zu dem mittelalterlichen Städtebund Hanse; darunter Tangermünde, Havelberg und Gardelegen. Sie erlebten ihre Blütezeit im 14. und 15. Jahrhundert. Durch Freihandel und ein geschäftstüchtiges Bürgertum gelangten sie zu Wohlstand. Davon zeugen noch heute prächtige Kultur- und Baudenkmale.
Wie in Tangermünde. 1009 erstmals in einer Chronik erwähnt, war „Tongeremuthi“ an der Mündung des Tanger eine Wehrburg innerhalb des Verteidigungssystems an der Elbe, das zum Schutz vor den ostelbischen Slawen errichtet worden war. In den beiden folgenden Jahrhunderten gelang es, die Slawen zurückzudrängen oder sie – wie damals üblich – mit „Feuer und Schwert“ zu christianisieren. Albrecht der Bär, Markgraf der Nordmark, weitete das Herrschaftsgebiet des Heiligen Römischen Reiches bis zum heutigen Berlin aus und holte Siedler aus Holland ins Land, die entscheidend zum Deichbau beitrugen. Er gilt heute als der Gründer der Mark Brandenburg. Tangermünde entwickelte sich zum Marktort, erhob Zölle an beiden Flüssen, Elbe und Tanger, und trat der Hanse bei. Kaiser Karl IV. wählte die Burg in Tangermünde zur Nebenresidenz seines Prager Hradschin. Viel von dieser Burg ist nicht übriggeblieben, aber die mächtigen Mauern zur Elbseite hin vermitteln noch einen Eindruck von ihrer Wehrhaftigkeit. Auf dem Burgberg residiert heute ein exklusives Schlosshotel. Nach dem Tod Kaiser Karls IV. verlor man am Hof das Interesse an dem Ort – und so gelangte Tangermünde an die Nürnberger Hohenzollern, die als Belohnung für tapfer geleistete Kriegsdienste vom Kaiser mit der Residenz an der Elbe belohnt wurden. Das war zu Beginn des 15. Jahrhunderts – in der Blütezeit der Hanse, als der Handel mit Getreide, Bier und Tuchen florierte. Damals entstanden die Stadttore aus gebrannten Ziegeln, von denen noch zwei stehengeblieben sind, die St. Stephanskirche als gotische Hallenkirche, das reich verzierte Rathaus – ein Statement selbstbewusster Bürger. Und die ließen sich von den Grafen im Schloss nicht gerne kujonieren, widersetzten sich 1488 der Biersteuer und wollten keine Einmischung in ihren Handel. Die Hohenzollern waren es leid und verlegten ihren Kurfürstensitz nach Berlin beziehungsweise Cölln.
Frühneuzeitliches Straßenbild
Grete Minde war es nicht, die Tangermünde 1617 angezündet hat. Das steht heute fest, auch wenn Theodor Fontane sie als junge Frau voller Hass und Enttäuschung für ihre Tat quasi entschuldigt. Der Brand war an mehreren Stellen ausgebrochen und zerstörte zwei Drittel der Häuser und Scheunen in der Stadt. Eine Grete Minde gab es tatsächlich in der Stadt – sie hatte den verstoßenen Sohn eines angesehenen Ratsherrn geheiratet, der Sohn – ein Hallodri – starb, und sie kämpfte gegen den hartherzigen Schwiegervater um ihr Erbe. Stoff genug für ein Drama. Nach dem Brand bauten sich die Bürger kunstvoll verzierte zweigeschossige Fachwerkhäuser, durch Brandmauern und Abstände etwas besser geschützt als zuvor. Nach dem Feuer kam der Dreißigjährige Krieg, das Land blutete aus, Tangermündes Zeit als Handelszentrum war vorbei. Für die Chronik blieb sie bis ins 19. Jahrhundert eine unbedeutende Landstadt, die industrielle Entwicklung vollzog sich im Norden der Stadt, eine große Zuckerraffinerie, eine Schokoladenfabrik, die die Edelmarke „Feodora“ herstellte (heute bei „Hachez“). Der Altstadtkern mit Befestigung wurde in dieser Zeit im Gegensatz zu den meisten Städten in Europa nicht angetastet. Und so geht man heute durch ein vollständig erhaltenes frühneuzeitliches Straßenbild, das weder von den Nazis verunstaltet noch von der DDR „renoviert“ wurde. Zwei belebte Straßen führen parallel durch die Innenstadt, mit Eiscafé, Ladengeschäften, vielen Hotels und – eine besondere Attraktion – der „Zecherei St. Nikolai“, wo man mit Dolch und Händen isst und auch mal einen Badezuber benutzen kann.
Man verlässt die Stadt nur ungern, lange noch radelt man an Kleinindustrie, zweckmäßigen Wohngebäuden und Supermärkten vorbei, und schwört sich am Ende: Da will ich noch einmal hin, auch ohne Rad. Von Berlin aus kein Kunststück: zwei Stunden mit dem Regioexpress bis Wittenberge, dann noch ein paar Minuten Richtung Süden. Oder über Stendal, wo selbst die ICEs auf ihrer schnellen Fahrt von West nach Ost Station machen: Zwölf Minuten, 3,20 Euro sagt die Auskunft. Nur mit dem Auto wird es schwierig – Parkplätze sind rar. Die Elbregion wird sich bedanken für eine umweltschonende Anreise.