Es braucht mehr Kontrollen: Die einstige Selbstverpflichtung der Fleischindustrie hat wenig gebracht, zeigt eine Studie. Das neue Gesetz, das im September im Bundestag verabschiedet wird, soll das nun ändern. Misstrauen aber ist angebracht.
Die Regierung will aufräumen. Weg mit miesen Arbeits- und Wohnbedingungen, schlechtem Arbeits- und Gesundheitsschutz, kein Umgehen von Mindestlöhnen in der Fleischindustrie mehr. Das Gesetz soll nach der Sommerpause im Bundestag verabschiedet werden. Und jetzt wird alles gut? Nicht unbedingt. Immer, wenn die Fleischindustrie in den vergangenen Jahren in die Kritik geriet – und an Kritik mangelte es selten –, gelobte die Branche Besserung. Zuletzt am 21. September 2015. Verkündet wurde damals eine Selbstverpflichtung, der sich neben Marktführer Tönnies noch fünf andere große Player anschlossen: mehr Mitbestimmung, Sozialversicherung, Transparenz. Danach wurde es wieder still um die Branche. Die Ausbeutung der osteuropäischen Arbeiter, die Zustände in den Unterkünften, das undurchsichtige Konglomerat von Subunternehmen: All das, was der „Spiegel" treffend als „Schweinesystem" bezeichnet, geriet wieder in Vergessenheit.
Bis heute: Wieder steht Tönnies mit dem Rücken zur Wand, wieder gibt es massive Kritik, nachdem sich über 1.500 Mitarbeiter in seinem Stammwerk mit dem Coronavirus infiziert haben. Die Politik, so scheint es, macht diesmal ernst. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigt an, ab 2021 Werkverträge in Großbetrieben ab 50 Beschäftigten zu verbieten. Strenge Kontrollen soll es geben, Leiharbeit nur noch in Ausnahmefällen.
Seit 2014 gilt in der Fleischindustrie der branchenbezogene Mindestlohn, seit 2015 die eingangs erwähnte Selbstverpflichtung. 2017 folgte das „Gesetz zur Sicherstellung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft" (GSA Fleisch). Wissenschaftler der Uni Duisburg-Essen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, sehen zumindest den Mindestlohn als Schritt in die richtige Richtung. Doch selbst da habe sich der Staat „lange vor dieser neuen Verantwortung gedrückt", heißt es im aktuellen Report des Instituts für Arbeit und Qualifikation. Ansonsten verheißt das Dokument (Titel: „Das Scheitern der Selbstverpflichtung") nichts Gutes. Jahrelang habe sich der Staat mit den freiwilligen Vereinbarungen begnügt. Erst „die unheilvolle Kombination schlechter Arbeits- und Wohnbedingungen mit hohen Infektionsraten" habe zu einem neuen politischen Impuls geführt. Und auch diesmal werde sich nur etwas ändern, „wenn dahinter auch ein ernsthafter staatlicher Umsetzungswille steht". Beim Mindestlohn sei lange gemogelt worden, um den Arbeitsschutz stehe es ebenfalls schlecht. „Zwischen Juli und September 2019 führte der Arbeitsschutz in Nordrhein-Westfalen eine Überprüfung von 30 Schlachtbetrieben […] durch und stellte insgesamt 8.752 gravierende Verstöße fest", bemerkt der Report. Wohlgemerkt: Die Rede ist hier nicht nur von Tönnies, sondern von der gesamten Branche.
Vergessen wurde das „Schweinesystem"
Also mehr Kontrolle. Die soll nun im Gesetz festgeschrieben werden. Doch schon jetzt bringen sich Lobbyisten in Stellung. „Wir befürchten, dass der vorliegende Gesetzentwurf europa- und verfassungsrechtlich nicht standhält", schreibt der Verband der Fleischwirtschaft am 4. August in einer Stellungnahme. Werkverträge sollten „mit Rücksicht auf kleine, mittelständische Betriebe" in Firmen mit bis zu 100 Beschäftigten erlaubt bleiben. Das Verbot der Leiharbeit sei „unverhältnismäßig und […] nicht notwendig", so der Verband. Auch Teile der Union schlagen mahnende Töne an. Werkverträge und Zeitarbeit seien für viele mittelständische Betriebe entscheidend, findet Astrid Hamker, Präsidentin des CDU-Wirtschaftsrats.
Tönnies kämpft derweil um seinen Ruf. Bislang hatte er es noch immer geschafft, Kritik abzubügeln und tiefgreifende Veränderungen zu verhindern. Aktuell hat die Firma ein „25-Punkte-Sofortprogramm". Demnach sollen bis Ende September 1.000 Werksbeschäftigte in Rheda-Wiedenbrück direkt bei Tönnies angestellt werden. Bis zu 400 neue Wohnungen werden in Aussicht gestellt; die Tierhaltung soll verbessert werden, ebenso die „Pandemieprävention". Fast klingt es, als wolle das Großunternehmen diesmal wirklich etwas verändern. Ist es Einsicht?
In einem Interview mit dem „Westfalen-Blatt" schlägt Clemens Tönnies zurück. Er habe sich immer an Recht und Gesetz gehalten, beteuert der Schweinebaron. Die massive Kritik an ihm und seiner Firma sei ein „politischer Feldzug". Und überhaupt: Ein Verbot von Werkverträgen führe zu einer massiven Abwanderung. „Ich sehe die Leute dann bei Amazon, der Meyer-Werft oder anderen Branchen." Am 14. Juli meldet Tönnies 15 neue Tochterfirmen beim Amtsgericht Gütersloh an. Der Zweck: „Herstellung und Vertrieb von Fleischwaren aller Art einschließlich der Schlachtung, Zerlegung und Kommissionierung". Warum genau? Unklar. „Eine Tochtergesellschaft zu gründen, ist an sich natürlich nicht illegal", sagt Armin Wiese, Berater bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). „Aber es ist schon eigenartig, dass Tönnies genau jetzt, wo eine Gesetzesverschärfung im Raum steht, neue Tochterfirmen gründet." Wiese vermutet, dass es vor allem um die Einschränkung von Mitbestimmungsrechten geht. Ein mögliches Szenario: Die Mitarbeiter erhalten bei den Tönnies-Töchtern neue Verträge, die nur befristet gelten. „Wer befristet angestellt ist, wird nicht auf die Idee kommen, einen neuen Betriebsrat zu gründen", sagt Wiese. In einem Punkt stimmt er mit Tönnies überein: „Die Leute könnten tatsächlich zu Amazon oder in andere attraktivere Branchen wechseln." Eine Besichtigung des Werks in Rheda-Wiedenbrück lehnt der Tönnies-Konzern ab. Stattdessen antwortet ein Pressesprecher per E-Mail. „Es geht dezidiert nicht um die Umgehung von zukünftigen Regelungen", schreibt er. Um die derzeitigen Werkvertragsarbeiter fest anzustellen, brauche es eine rechtliche Grundlage – und mehrere voneinander getrennte Arbeitgeber. Nur so könne sichergestellt werden, dass bei „Situationen wie in Corona-Zeiten" im Ernstfall nicht alle Betriebsbereiche geschlossen werden. Eine Anstellung in Tochtergesellschaften sei doch „völlig normal und unumstritten in anderen deutschen und internationalen Konzernen."
Neue Tochterfirmen gründen – ein Trick?
In Rheda-Wiedenbrück schwankt die Meinung derweil zwischen Misstrauen und Gleichgültigkeit. „Die Leute vergessen sehr schnell", sagt Verena Knöbel, die zusammen mit ihrem Mann Thomas eine Metzgerei in der westfälischen Kleinstadt betreibt. Das Fleisch von Tönnies sei qualitativ in Ordnung, sagt sie, „aber wir wollen kein System unterstützen, in dem Arbeiter ausgebeutet werden." Die eigenen Rinder beziehe man von Bauernhöfen aus der Umgebung; Schweine von einer regionalen Fleischergenossenschaft. Im Nebenraum zerlegt Thomas Knöbel ein komplettes Rind. An seiner weißen Metzgerschürze klebt Blut, vor ihm liegt ein 70 Kilo schwerer Fleischbrocken, den er mit einem Messer fachmännisch zerschneidet. „Hier gibt’s keine Bandarbeit wie bei Tönnies", sagt Knöbel. Überhaupt sieht er sich vom Skandal um die Fleischindustrie eher bestätigt. Im Ort gebe es noch genügend Menschen, die traditionelles Handwerk schätzen.
Ein paar Kilometer entfernt steht Inge Bultschnieder in ihrem Garten. Die 48-Jährige ist in Rheda-Wiedenbrück so etwas wie das Gesicht des Widerstands – nicht nur gegen Tönnies, sondern auch gegen die Subunternehmen, die osteuropäische Arbeiter ausbeuten. Mit ihrer Bürgerinitiative „IG Werkfairträge" besucht sie Fremdarbeiterinnen, hält Mahnwachen und prangert die Ausbeutung öffentlich an. Bultschnieder ist der ganze Trubel um ihre Person unangenehm, aber sie weiß auch, dass sie die Gunst der Stunde nutzen muss: Der Corona-Ausbruch hat die Aufmerksamkeit auf ihr Herzensthema gelenkt; sogar NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat sich bereits mit ihr getroffen.
Dennoch ist Bultschnieder desillusioniert. „Die Angst etwas zu sagen, war nie so groß wie heute", sagt sie über die Schlachthof-Arbeiter, die hier leben. Der Konzern bezahle in den Wohnungen sogar Spitzel, um unliebsame Informanten abzuschrecken. Dass ein neues Gesetz an solchen Methoden etwas ändert, mag die Aktivistin noch nicht so recht glauben. „Tönnies ist ein gewiefter Typ, der jedes Schlupfloch nutzen wird", sagt Bultschnieder.