Die politisch gewollte Normierung von Lebensmitteln führt dazu, dass Erzeuger etwa ein Drittel ihrer landwirtschaftlichen Produkte aussortieren müssen, weil diese nicht den Vorgaben entsprechen. Der „Rettermarkt Rettich" in Saarbrücken stellt sich ganz bewusst dagegen.
Am 8. Juli eröffnete Fabienne Ebertz im Saarbrücker Nauwieser Viertel den „Rettermarkt Rettich". Ihr geht es mit ihrem Projekt um die Wertschätzung von Lebensmitteln, denn viele Menschen wissen gar nicht mehr, wie wertvoll auch krummes Gemüse ist. In unseren „normalen" Märkten finden sich nur noch Waren, die gewissen Normen entsprechen. Es gibt unzählige Verordnungen der Europäischen Union, wann eine Banane krumm ist und wie groß ein Hühnerei sein muss, damit der Handel es verkaufen darf. Bei diesen Gesetzen geht es selten um die Qualität, sondern meist nur um Normen und Größen, an die sich der Lebensmittelhandel halten muss. Sonst bekommen die Händler Probleme mit den Aufsichtsbehörden. Welche Arbeit im Anbau und was für eine lange Wertschöpfungskette dahinter stehen, spielen dabei kaum eine Rolle.
Fabienne Ebertz: „Es geht grundsätzlich darum, den Lebensmitteln den Wert zu geben, den sie auch verdient haben. Kaum jemand weiß, dass ein Bauer ein Drittel seiner Ernte aussortieren muss, nur weil die Produkte nicht der Norm entsprechen. Doch dieses Obst und Gemüse schmeckt einwandfrei, die zu kleinen Kartoffeln etwa sind meist schmackhafter als große. Eine Dame erzählte kürzlich, die krummen und kleinen Gurken schmecken ihr besser. Sie hätten mehr Geschmack als große."
Idee zu eigenem Laden wegen einer TV-Doku
Die Retterbewegung ist nicht neu. Deutschlandweit gibt es in vielen Städten solche Geschäfte – mit großem Erfolg. In Berlin gab es anfangs einen, jetzt sind es fünf. Auch in Münster, Stuttgart und Köln sind sie erfolgreich, mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Einige machen nur klassischen Einzelhandel, andere bieten auch Mittagessen an. Wieder andere haben auch ein Café dabei. Fabienne Ebertz kam durch eine Dokumentation, die sie im Fernsehen gesehen hat, auf die Idee, ihren eigenen Laden in Saarbrücken zu eröffnen. In dieser Doku ging es um einen Kölner Laden. Sie fand das herausragend und holte sich daraus ihre Motivation, den Schritt in die Eigenständigkeit zu riskieren. Was sonst wohl in der Tonne landen würde, kommt nun in ihren Laden.
Und nein, sie steht damit nicht in Konkurrenz zu den Tafeln. Tafeln dürfen – so will es das Gesetz – keine abgelaufenen Lebensmittel verteilen. Fabienne Ebertz kämpft für diese: „All diese Lebensmittel sind doch auch sehr wertvoll! Dafür wurden Ressourcen verbraucht – Energie, Wasser, alles Mögliche. Lagerung, Logistik und vieles mehr. Diese Sachen sind transportiert worden und landen am Ende in der Tonne. Das kann es doch nicht sein! Und dagegen tritt diese Bewegung an."
Ein sozialer Nebeneffekt ist natürlich auch, dass man hier sehr günstige Preise für den Verbraucher hat. Auf der einen Seite wollen viele Menschen Lebensmittel retten, auf der andern Seite bekommen Menschen mit geringerem Einkommen zum Teil hochwertige Ware. Der Preis richtet sich nach dem Einkauf, ist aber bei allen Produkten nachvollziehbar. Gerade bei Obst und Gemüse, das halt zu klein und zu krumm ist, dafür aber direkt vom Bauern kommt. Beste Qualität eben, was man bei vielen Supermärkten und Discountern nicht immer sagen kann. Der Laden in der Saarbrücker Cecilienstraße ist mit viel Kreativität eingerichtet. Die Möbel bekam Fabienne Ebertz teils geschenkt, teils hat sie sie gerettet. Vieles ist hier selbst gebaut. Die Stühle im rechten Teil für die kleine Café-Ecke sollten ursprünglich auf den Müll. Jetzt sitzen hier Leute stundenlang, arbeiten an ihrem Laptop und genießen die Backwaren vom Vortag bei einer Tasse Kaffee oder Tee. Es gibt hier auch „aufgeschobenen Kaffee oder Lebensmittel". Das heißt, jemand bezahlt zwei Kaffee, trinkt aber nur einen. Dies wird dann in einem Buch notiert. Wenn jemand den Laden besucht, der gerade nicht flüssig ist, kann er diesen bereits bezahlten Kaffee trinken. Das gleiche geht auch mit Lebensmitteln.
An der Decke hängt ein Leuchter aus alten Weinflaschen, den Fabienne Ebertz selbst gemacht hat. Das Ganze hat unheimlich viel Charme und unterscheidet sich von den immer gleichen und langweiligen Einrichtungen anderer.
Das Angebot hier ist vielfältig und auch in einem dauernden Wandel. Frisches Obst und Gemüse kommt vom Bauern. Manchmal auch vom Biobauern. Vom Aussehen her ist es eher ungeeignet, in den Supermarkt zu kommen. Nicht schön genug, zu krumm oder zu klein! Diese Produkte entsprechen halt nicht den Normen oder sind laut MHD, dem Mindesthaltbarkeitsdatum, abgelaufen. Wobei viele Kunden dieses Datum mit ungenießbar verwechseln. Das MHD sagt aber lediglich, dass der Produzent garantiert, dass sein Produkt bis zu diesem Datum haltbar ist. Es ist oft noch viel länger genießbar, dafür gibt es dann lediglich keine Garantie mehr. Und wenn es sich nicht um sehr sensible Lebensmittel handelt, ist dies grundsätzlich überhaupt kein Problem.
Ich schlendere mit Fabienne Ebertz durch den Laden und will wissen, welche Produkte sie vertreibt. Hinten rechts ist ein Regal mit Eiern. Was ich nicht wusste ist, dass es in Deutschland verboten ist, Eier der Größe S im Lebensmittelhandel zu verkaufen. Selbst, wenn es die besten Eier aus Freilandhaltung sind. Diese hier stammen von einem Bauernhof aus Illingen, vom Hof von Matthias Spreitzer.
Auf der Seite „wertvolles Neunkirchen" wird er so beschrieben: „Wenn Matthias Spreitzer sein Land am Rand von Wustweiler in der Gemeinde Illingen bestellen oder sich um seine Freilandhühner kümmern will, setzt er sich ins Auto und fährt die Straße hoch zu seinen Ländereien. Dort bietet sich vorbeikommenden Spaziergängern ein kurioser Anblick: Auf den Anhöhen stehen vier Hühnerställe auf Rädern. Es sind mobile Ställe, mit denen der Landwirt durch unkonventionelle Hühnerhaltung ein Zeichen gegen leidende Tiere in der Massenhaltung und für Nachhaltigkeit setzt."
Messeprodukte gibt es wegen Corona zuhauf
Ich wette, dass 80 Prozent im Lande nicht so gute Eier essen, sondern fragwürdige Produkte aus der Lebensmittelindustrie. Fabienne Ebertz hat diese Eier „gerettet", denn Matthias Spreitzer hätte sie wohl nicht verkaufen können. Sie ist sehr stolz darauf, Eier in dieser Qualität in ihrem Laden zu haben. Beste Freilandhaltung, lediglich zu klein! Denn in Deutschland verkauft man Eier in M, L und XL. Egal in welcher Qualität, Hauptsache groß. Verkaufen können die Bauern diese Eier höchstens in ihren eigenen Hofläden. Deshalb lohnt es sich, immer mal wieder bei solch einem Hofladen vorbeizuschauen. Denn dort verkaufen auch Bauern Lebensmittel, die es im Supermarkt nicht (mehr) gibt. Fabienne Ebertz macht es übrigens privat beim Einkauf wie ich auch: Sie kauft nur Produkte von Erzeugern, die sie kennt.
Weiter spazieren wir an den Kühlschrank. Dort gibt es von Naturjoghurt über Milch und Käse bis zu veganen Produkten eine größere Auswahl. Nebenan stehen mehrere Kästen mit abgelaufenem Bier. Und Backwaren. Dann sehe ich vegane Nudeln, diese wurden für Messen produziert, die aber alle abgesagt wurden. In den vergangenen Monaten fand nicht eine Messe statt. Auch Snacks, Süßigkeiten und abgelaufener Eistee sind im Sortiment. Natürlich wird kontrolliert, ob die Lebensmittel noch gut und zu verkaufen sind. Vieles hier ist regional, darauf legt die Betreiberin großen Wert.
Ein Highlight zum Schluss: Im Angebot ist auch ein „Retterwein" von der Saar, vom Weingut Inga Schmidt aus Konz. Auf dem Etikett steht Retterwein. Warum das so ist, diese Geschichte sollten Sie sich bei einem Besuch im Laden vor Ort einmal selbst anhören …