Postfaktische und Fake News sind nicht neu, sondern ein chronisches Leiden
Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hatte 2016 postfaktisch zum „Wort des Jahres" gekürt. Doch die Behauptung, dies sei der Ausdruck eines tief greifenden Wandels, ist falsch. Postfaktisch leitet sich vom englischen post-truth her und steht dafür, dass nicht die Realität und Tatsachen, sondern Emotionen und Lügen das Geschehen und die Entscheidungen im gesellschaftlichen und politischen Raum bestimmen.
Allerdings hat Harry Pross – ein Nestor der deutschen Publizistik und von 1968 bis 1983 Ordinarius am Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin – bereits 1971 ein viel beachtetes, aber heute fast vergessenes Buch veröffentlicht. Der Titel des Buchs lautet „Die meisten Nachrichten sind falsch". Pross, damals selbst Mitglied im Kontrollorgan Rundfunkrat des Senders Freies Berlin, trat für eine neue Kommunikationspolitik ein – gipfelnd in dem Satz „Medien, die Offenheit entbehren, verhindern Kommunikation."
Der Satz, den Curt Goetz einst eher scherzhaft in seinem Lustspiel „Hokuspokus" prägte, findet inzwischen tausendfach Beifall: „Er lügt wie eine Zeitung!" Nachrichten sind offenbar nicht mehr – oder nur sehr bedingt – das, wonach wir uns im Sinne der Wortbedeutung bedenkenlos richten können. Fast naiv liest sich die These des Heinrich von Kleist, der 1810 in Berlin mit den „Abendblättern" die erste Boulevardzeitung begründete: „Journalistik ist die treuherzige und unverfängliche Kunst, das Volk von dem zu unterrichten, was in der Welt vorfällt."
Nach 400 Jahren Zeitung im deutschen Sprachraum sind Zweifel und Nachfragen beim Medienkonsum durchaus angebracht. Schließlich war die Behauptung, dass Saddam Massenvernichtungswaffen habe, die zum Irakkrieg mit seinen fürchterlichen Folgen führte, ebenso eine Lüge wie die im August 1964 frei erfundene Nachricht vom Tonkin-Zwischenfall vor der Küste Nordvietnams. Mit dieser begründete US-Präsident Johnson den direkten Eintritt der USA in den Vietnamkrieg.
Der inzwischen vergessene US-Medienforscher I.F. Stone hat im vorigen Jahrhundert unter dem Titel „Jede Regierung lügt" eine endlose Liste amtlicher Unwahrheiten zusammengestellt. Und Lügen haben entgegen der landläufigen Meinung häufig sehr lange Beine. Viele Kulturkritiker, Philosophen und Lügenforscher meinen, die menschliche Natur sei eher geneigt, Gerüchte und Unwahrheiten zu glauben, als den Fakten zu vertrauen. Beispiele dafür gibt es überreichlich.
Angefangen von der eher kuriosen Legende des hohen Eisengehalts bei Spinat (Popeye lässt grüßen), die schlicht auf einem Kommafehler beruhte, der seit 1900 immer wieder abgeschrieben wurde, bis zu der Tatsache, dass der angebliche Weltreisende Marco Polo niemals in China war. Und dass es den „Sturm auf die Bastille" bei der Französischen Revolution 1789 nicht gegeben hat oder dass Martin Luther seine 95 Thesen gar nicht an die Pforte der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen hat.
Ist postfaktisch der Ausdruck eines aktuellen Lebensgefühls? Prägen Hass, Wut, Aggressionen und Ängste im Zeitalter der Digitalisierung und der sozialen Medien, die drohen, zu asozialen Medien zu verelenden, anders als in früheren Zeiten die gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen?
Richtig ist, dass die neuen Kommunikationsmittel, auf die die Politik nicht vorbereitet war, neue Dimensionen im menschlichen Umgang und in der Streitkultur erschaffen – einhergehend mit einer erkennbaren Verrohung der Sprache. Und: Wer früher mit seinen Pöbeleien den Schutz der Anonymität suchte, kommt heute ungeniert mit offenem Visier daher.
Doch in der Qualität und der Verwerflichkeit unterscheiden sich die Lügen und Falschmeldungen, die zum Beispiel in den 60er-Jahren über einen Kanzlerkandidaten Willy Brandt verbreitet wurden, in nichts von Verleumdungen und Schauermärchen, die heute in Wahlkämpfen oder in weltpolitischen Auseinandersetzungen benutzt werden. Postfaktisch und Fake News sind ein chronisches Leiden.