Viele Menschen träumen ab und an von einem Neuanfang. Damit der gelingen und man Altes besser loslassen kann, gibt es einiges zu beachten.
Neues entdecken und sich von Altlasten zu befreien: Dieser Gedanke kann schon einmal aufkommen. Der Wunsch, das loszulassen, was uns bedrückt oder blockiert. Doch was zunächst nach Erleichterung klingt, fühlt sich oft auch schwer an. Denn es gibt schließlich Gründe, warum wir an einer schlechten Gewohnheit, dem ungeliebten Wohnort oder einer schwierigen Beziehung festhalten. Dass wir Menschen wissen, dass uns ein Neustart guttäte, heißt noch lange nicht, dass wir auch damit loslegen. So bleiben viele schöne Pläne, gute Vorsätze und neue Lebensentwürfe auf der Strecke. Warum fällt uns Veränderung so schwer und wie kann ein Neustart gelingen?
Tatsächlich entspricht das Loslassen erst einmal nicht der Natur des Menschen. Von Geburt an sind wir Klammeraffen, denn am Beginn unseres Lebens ist Bindung unverzichtbar. Der Umklammerungsreflex half Babys vermutlich vor Urzeiten, sich bei Gefahr fest in das Fell ihrer Mütter zu krallen. Auch heute greifen Babys nach Fingern oder dem Gesicht der Eltern, ohne Bindung könnten sie nicht überleben. Emotional sind wir ähnlich aufgestellt: Unser Gehirn sucht und festigt Bindungen zu unseren Mitmenschen. Auf Trennungen reagiert es ebenso intensiv wie auf körperliche Schmerzen. Das Loslassen bringt immer Unsicherheit und unwägbare Aspekte mit sich. Das löst bei den meisten Menschen Unbehagen oder Angst aus, Sicherheit ist ein biologisch verankertes Grundbedürfnis. Während Kinder in solchen Momenten Schutz, Körper- oder wenigstens Blickkontakt zu den Eltern oder einer anderen Bindungsperson suchen, sind die Reaktionen bei Erwachsenen weniger offensichtlich. Dennoch gilt auch für sie: Wenn in unserem Leben Angst auftaucht, wird das Bindungssystem aktiviert. Im Umkehrschluss bedeutet das: Genau in dem Moment, wenn wir loslassen wollen und den Sprung ins Ungewisse wagen, brauchen wir das Gefühl, gut angebunden zu sein.
Dazu kommt, dass unser Gehirn uns eher für die alten Gewohnheiten als für das Ausprobieren neuer Dinge belohnt. Der Grund: Neues zu verarbeiten verbraucht im Hirn große Mengen Zucker und Sauerstoff. Wann immer es mit solchen komplexen Aufgaben konfrontiert ist, versucht es, Energie zu sparen. Deshalb versucht es, möglichst schnell aus unseren Handlungen Routine werden zu lassen. Die sogenannten Basalganglien, die über 90 Prozent unserer Alltagshandlungen steuern, sind nämlich im Vergleich zur Großhirnrinde, die mit dem Verarbeiten neuer Dinge befasst ist, sehr sparsam. Das führt dazu, dass unser Gehirn uns immer dann belohnt, wenn wir Gewohntes und Automatisiertes durchführen. Das kann der morgendliche Spaziergang, das Mittagessen mit Kollegen oder der Tee am Abend sein. Das Gehirn schüttet dann körpereigene Opiate, also Wohlfühldrogen, aus.
Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerhard Roth, der das Buch „Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern" geschrieben hat, glaubt, dass die meisten Menschen einen gewissen Leidensdruck bräuchten, um sich auf Fremdes einzulassen. Sie kämpften dann nicht nur mit der Angst vor Neuem, sondern gleichzeitig mit dem Verzicht auf den gewaltigen gehirneigenen Bonus. Dazu könne auch noch ein Gefühl von Wert- und Haltlosigkeit kommen, das im Gehirn die gleichen Areale aktiviert wie körperlicher Schmerz. Dabei wird ein Botenstoff ausgeschüttet, den Forscher auch Substanz P nennen. Der Buchstabe steht für das englische Wort pain – also Schmerz.
Optimales Erregungsniveau
Auch der amerikanische Evolutionspsychologe Eric Klinger von der University of Minnesota sagte einst, sich von wichtigen Zielen, Menschen oder Orten trennen zu müssen, käme einem psychischen Erdbeben gleich. Dennoch gibt es Menschen, die sich damit leichter tun als andere. Das hat auch mit unseren Genen zu tun. Psychologen gehen davon aus, dass es für jeden von uns ein optimales Erregungsniveau gibt. Und das wird zu etwa 70 Prozent von den Genen bestimmt. 80 Prozent der Menschen hält die Zahl neuer Reize gerne gering und zieht Gewohntes neuen Dingen vor. Bei ihnen ist der Wunsch nach Routine, Verlässlichkeit und Ritualen deutlich ausgeprägter. Sie halten oft selbst dann noch stur an einer vertrauten Umgebung fest, wenn es ihnen dort ziemlich schlecht geht. 20 Prozent der Menschen hingegen halten ihr Erregungsniveau gerne hoch, indem sie häufig neue Reize suchen. Sensation Seekers, also Sensationssuchenden, werden sie genannt. Sie suchen das Abenteuer, lieben es, immer neue Orte und Menschen kennenzulernen, lassen sich von Neugierde und Aufbruchslust treiben und sind schnell gelangweilt. Extremere Exemplare suchen den Kick in Glücksspielen und riskanten Sportarten. Ist die Genvariante abgeschwächter vorhanden, werden solche Menschen von anderen vor allem als offen und wissbegierig wahrgenommen.
Neben unserem Sicherheitsbedürfnis, der Belohnung unseres Gehirns für Gewohntes und den individuellen genetischen Gegebenheiten haben aber auch unsere Lebenserfahrungen Einfluss darauf, wie leicht oder schwer wir uns tun, loszulassen. Früher ging die Bindungsforschung von der einfachen Gleichung aus: Je sicherer sich ein Baby bei seinen Eltern fühlt, desto leichter werden ihm als Erwachsenem nicht nur Bindungen, sondern auch deren Auflösungen fallen. Wer sich also sicher fühlt, der kann sich bei allem Abschiedsschmerz dennoch lösen, wenn es an der Zeit ist. Die Psychologin Mary Ainsworth und der Kinderpsychiater John Bowlby haben in ihrer Bindungstheorie verschiedene Typen beschrieben, die sich je nach Kindheitserfahrungen herausbilden. Da gibt es einerseits das sicher gebundene Kind, das sich zwischendurch mal bei seiner Bezugsperson wärmt oder trösten lässt und dann wieder die Welt erkundet. Es entwickelt ein stabiles Urvertrauen und kann sich sorglos auf den eigenen Weg machen. Erlebt ein Kind hingegen viel Zurückweisung, wird es der Bindungsforschung zufolge tendenziell zu einem Vermeider. Das bedeutet, es hat gelernt, eigene Angst, Wein- und Anlehnungsbedürfnis zu unterdrücken und so zu tun, als bräuchte es die Nähe gar nicht. So kann es nach außen so scheinen, als seien diese Menschen besonders begabte Loslasser. Sie erleben bei Belastungen aber dramatischere Ausschläge im Hormonsystem und haben mehr Mühe, ihren Stresspegel herunterzuregulieren, als jene, die als Kinder sicher gebunden waren. Am schwierigsten gestaltet sich das Loslassen jedoch für Kinder, die ein sogenanntes unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten gelernt haben. Deren Bezugspersonen haben zwischen Zuwendung und Zurückweisung, Gehenlassen und sorgenvollem Festhalten geschwankt. Als Erwachsene reagieren sie mit größerer Angst auf Veränderungen und neigen dazu, sich in ihren Beziehungen zu verstricken, brauchen meist erst einen neuen Partner oder einen neuen Job, bevor sie sich von einem alten freiwillig lösen können. Dabei ist der Bindungsstil der Kindheit aber kein unauflösliches Schicksal, sondern das Bindungssystem bleibt immer offen für neue und sichere Bindungserfahrungen. Moderne Bindungsforscher gehen außerdem davon aus, dass sich unser Bindungsstil nicht nur ein Leben lang weiter verändert, sondern sich auch in den einzelnen Lebensbereichen unterscheidet.
Vertrauen in das Neue aufbauen
Wer sich besonders schwertut mit Veränderungen oder schon über eine längere Zeit hinweg um den Neuanfang herumschleicht, dem kann auch ein Gespräch mit einem Psychotherapeuten oder Coach helfen. Sibylle Tobler ist eine von ihnen und hat das Buch „Neuanfänge – Veränderungen wagen und gewinnen" geschrieben. Sie glaubt, dass für einen gelingenden Neuanfang drei Schritte essenziell sind: erkennen, was es loszulassen gibt, wissen, wofür es sich lohnt, den Neuanfang zu wagen und Vertrauen aufzubauen. Tobler argumentiert, vielen Menschen sei zunächst gar nicht klar, woran sie eigentlich festhielten und warum. Oft spürten sie nur, dass sie frustriert, unglücklich oder gestresst sind. Eine erste Schlüsselfrage laute deshalb: „Bin ich bereit, meine Situation zu erkunden, bis mir klar ist, woran ich festhalte, warum ich dies tue und wo ich mit ersten Schritten Veränderung wagen will?" Im zweiten Schritt gehe es darum, zu überlegen, wofür man eigentlich losgehen will und was man mit einer Veränderung gewinnen könne. Man könne Altes viel besser loslassen, wenn man eine motivierende Vorstellung davon entwickelt, was stattdessen kommen könnte. Als zweite Schlüsselfrage formuliert sie daher: „Habe ich einen Horizont, der mich motiviert vorwärtszugehen und der mir entspricht? Und: Bin ich entschlossen, in dessen Richtung loszuziehen?" Im dritten Schritt empfiehlt die Beraterin, Vertrauen in das Neue aufzubauen. Bausteine dafür seien etwa offen zu sein für neue unterschiedliche Möglichkeiten, selbstverantwortlich zu handeln und Erfahrungen wertzuschätzen. Die dritte Schlüsselfrage, die man sich stellen solle, heißt: „Verstehe ich, wie ich Vertrauen ins Neue aufbauen kann?" Wer diese Schlüsselfragen positiv beantworten könne, habe eine Basis, auf der Loslassen möglich sei. Besser noch: „Es geht nicht mehr ums Loslassen von etwas, sondern ums Freiwerden zu etwas: Man muss sich nicht mehr zwingen, etwas hinter sich zu lassen – man ist vielmehr motiviert, vorwärtszugehen", so Tobler.
Ganz gleich aber wie gut man sich auch vorbereitet, jeder Neuanfang bringt innere Unruhe mit sich. Katrina Ley, Psychoanalytikerin und Autorin des Buches „Die Kunst des gutes Beendens: Wie große Veränderungen gelingen", rät dazu, sich nicht zu überfordern und zu akzeptieren, das Loslassen ein Prozess ist. Hilfreich ist aus ihrer Perspektive eine „umsichtige Bilanz". Das bedeutet, sowohl das Negative als auch das Positive an den alten Gewohnheiten, an der Verbindung zu einem Menschen oder an der bisherigen Aufgabe zu würdigen. Denn meist haben wir aus dem, was wir aufgeben möchten, einiges gelernt und nehmen diese Erfahrung mit ins weitere Leben. Diese Würdigung in Verbindung mit Dankbarkeit sei der Schlüssel, um Dinge gut zu beenden. Das wirklich beflügelnde Gefühl ereile einen aber erst dann, wenn das Neue richtig da sei. Dann gilt, frei nach Hermann Hesse: Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.