Das schottische Glasgow hat sich – Künstler und Architekten voran – aus der einst maroden Industriestadt in eine spannende Kulturmetropole verwandelt. Der Kochbuch-Autor Paul Trainer führt uns an seine Lieblingsorte. Ein Kurzbesuch, bevor sich für Touristen vieles ändert.
Der Schatten der schönen Schwester ist lang. Aber Glasgow kann gegen Edinburgh immer öfter punkten. Für „Underdog"- Glasgow ist „Upper class"-Edinburgh snobistisch, verkniffen und arrogant. Umgekehrt halten die Hauptstädter die Großstadt im Westen immer noch für ungeschliffen und wenig kultiviert. Dabei hat man sich schon 1990 als Kulturstadt Europas feiern lassen, neun Jahre später auch als die Architektur- und Designstadt Großbritanniens. Seit den 80er-Jahren hat Glasgow konsequent auf Kultur gesetzt, die Innenstadt mit ihren viktorianischen Sandsteingebäuden saniert, sie von ihrem Ruß- und Abgasmantel befreit und im warmen Original-Ockerton wieder entdeckt. Die Ecken und Kanten, die es in allen Stadtvierteln noch gibt, stören nicht, schon gar nicht Investoren.
„Plötzlich ist Glasgow Trendstadt, die Bar- und Clubszene blüht auf", strahlt Paul Trainer und breitet die Arme aus, als wolle er die ganze Stadt umschließen: vom East End, dem ehemaligen Arbeiterviertel, über die Merchant City mit Bars, Restaurants und Designershops, über die futuristischen Glasfassaden am Fluss Clyde bis zum gehobenen West End, das Kreative anzieht.
„Plötzlich Trendstadt"
Oder sie nicht mehr loslässt. Wie Anna und Artem aus Estland. In ihrem Café „The Broken Clock" in der Park Road serviert Anna täglich ihre selbst gebackenen Törtchen. Sie kommen als Kunstwerke und schmecken himmlisch, von Anna präsentiert mit einem Charme, der kaum auszuhalten ist. „Ich ziehe nie mehr von hier fort. Schaut die honigfarbenen Häuserzeilen an, die rankenden Rosenbüsche, Gassen mit Kopfsteinpflaster, Italo-Feinkostläden, Antiquitätengeschäfte, Straßencafés – das West End ist für mich der schönste Stadtteil." Um die Ecke stöbern Touristen in einem Secondhandladen für Retro-Mode nach echten Kilts und Wollschals mit traditionellen Karomustern.
Der nahe Kelvingrove Park umgibt die Universität, eine neogotische, düstere Harry-Potter-Location. Im frischen Wind staunen die Besucher über das viele Grün. „Glasgow hat mehr als 70 Parks und ist eine der grünsten Städte Europas", klärt Paul auf. „Seine Vielfalt macht es interessant und die Menschen sind direkt, offen und freundlich". Eben: „People make Glasgow" – und der städtische Werbespruch meint wohl auch die Besucher.
Ein paar Kilometer weiter im North East vor einer schlichten Sandsteinfassade, der St. Luke’s Parish Church: ausgedient, umgewidmet ist sie zu einem der besten Livemusik-Treffs mit Pub und Restaurant mutiert und – tolerant, tolerant! – hält den alten Kirchenraum immer noch für das feierliche Hochzeits-Jawort bereit – samt Schmaus eine Tür weiter. Für uns gibt es zum Lunch moderne, schottische Küche, Lammkarree und frisches Gemüsepüree, bevor uns „Barrowland" in seinen Bann zieht.
Tom Joyce ist seit 36 Jahren die treue Seele des legendären „Barrowland Ballroom", eines der besten Musik- und Tanzclubs der Welt. „Die Rolling Stones, Bob Dylan, Justin Timberlake, Britney Spears – Weltstars der Rock- und Popszene habe ich erlebt, am liebsten mochte ich David Bowie", strahlt der kleine, nette Herr beim Gang durch die heiligen Hallen. „Barrowland" trug mit dazu bei, dass Glasgow den Unesco-Status als Stadt der Musik zugesprochen bekam.
In der Nähe, östlich vom Ausgehviertel Merchant City, findet am Wochenende der Barras Market statt, der bekannteste Flohmarkt Schottlands. Zwischen Gallowgate und London Road bieten Händler fast alles an – von Schlangenöl über Militaria und Vintage-Kleider bis hin zu Schweinefilets und Antiquitäten.
Im Halbdunkel der neuen Whisky-Bar „The Gate" lässt sich aus 160 Whisky- und 30 Gin-Sorten wählen. Aus Schottlands ältester Brauerei kommt seit 1885 das „Tennent’ Lager" nach dem Rezept einer Augsburger Brauerei. Es läuft gut und die Führungen sind ausgebucht.
Lebhafte Bar- und Clubszene mit eigenem Flair
Langeweile aus schottischen Töpfen war gestern. Einige Köche beschlossen, überwiegend lokale Zutaten zu verwenden, seitdem ist die schottische Küche top. Das zeigt sich alsbald beim Dinner im mehrfach ausgezeichneten Fischrestaurant „Gamba". Pauls Tipp – Fischsuppe mit Krabbenfleisch, asiatisch gewürzt mit Ingwer und Koriander – kommt an.
Wir frühstücken im wiedereröffneten, mit Liebe zum Detail nachgebauten „Mackintosh at the Willow". Glasgows schönste Teestube wurde vom Architekten und Designer Charles Rennie Mackintosh 1903 im schottischen Jugendstil entworfen und gebaut. So wie Barcelona Gaudí und Chicago Frank Lloyd Wright hat, ist Glasgow stolz auf seinen Mackintosh. Dort wird uns – original schottisch – Haggis vorgesetzt, bestehend aus Schafsmagen, gefüllt mit pürierter Schafsleber, Hafermehl, Schafsherz und Nierenfett, dazu Black Pudding und Blutwurst. Man kann es essen. Robert Burns, der schottische Nationaldichter, hat es jedenfalls einer Ode für wert befunden.
„Heute ist Glasgow frisch, jung und kreativ, benutzerfreundlich wie ein Smartphone" sagt Paul. Studenten prägen das Stadtbild, alles liegt nah beieinander. Auf drei verkehrsfreie Zonen verteilt finden sich hunderte Läden, Restaurants und Pubs. Ihre Shoppingmeilen scheinen die Glasgower am meisten zu lieben: die Buchanan Street, die Argyle Street und die Ingram Street sind ständig volksfestvoll. Unter dem Pflaster die drittälteste U-Bahn der Welt, in den Seitenstraßen das Mackintosh-Lighthouse und die Gallery of Modern Art. Mehr als 20 schöne Museen und Galerien gibt es. Der Eintritt ist fast überall frei.
In die Nacht geht es wieder ins schicke West End, nach Finnieston. Entlang der Byres Road hinter wertvollen Fassaden hat sich eine lebhafte Bar- und Clubszene mit eigenem Flair entwickelt. Den Pre-Dinner-Cocktail nehmen wir im beliebten „Kelvingrove Café"; im schlichten Imbiss „El Perro Negro" kosten wir den „Top Dog" mit Roquefort-Butter und Trüffel-Mayo – dieser wurde ausgezeichnet als Burger des Jahres 2019. Ein paar Schritte sind es dann nur noch zu Schottlands wohl bekanntestem Esslokal „Two Fat Ladies at the Buttery" – plüschig und vornehm wie ehedem, eine Fine-Dining-Adresse.
Im „Hutchesons’ Grill" in der Ingram Street ist es am Vormittag rappelvoll. In dem weißen, wunderschönen Eckhaus auf drei Etagen treffen sich die Jungen, Schönen und Hippen zum angesagtesten Brunch der Stadt. Eher europäisch als britisch ist die Cafékultur: Latte, Mokka, Espresso – gern mit einer lokalen Spezialität gereicht: Caramel Short Cake. Glasgow macht Lust!