Seine schützenden Eigenschaften wurden schon im 19. Jahrhundert in der Medizin und in Kriegszeiten geschätzt. Von daher ist Latex in Corona-Zeiten so etwas wie das Nonplusultra und wurde noch vor Ausbruch der Krise von einigen Designern wieder auf den Laufstegen präsentiert.
Natürlich konnten die Designer bei der Planung ihrer Anfang des Jahres vorgestellten Kollektionen für den Herbst/Winter 2020/2021 nicht ahnen, dass die Welt schon wenig später von einer verheerenden Pandemie eingeholt werden würde. Von daher war es purer Zufall, dass eigentlich ziemlich bizarre Kreationen wie Schutzmasken oder eben auch Latex-Teile plötzlich zu brandaktuellen Must-haves aufsteigen konnten. Die „Süddeutsche Zeitung" deklarierte die neuen Rubber-Catsuits von Balmain zu „Ganzkörper-OP-Handschuhen". Und die österreichische Tageszeitung „Der Standard" erklärte in aller Ausführlichkeit, „wieso Latex jetzt tageslichttauglich ist" und nicht mehr nur in Fetisch-Shops verstauben sollte.
Um gleich ein häufiges Missverständnis auszuräumen: Latex sollte nicht mit dem Kunststoff PVC verwechselt werden, wie es gemeinhin immer wieder geschieht. Weil es sich bei Latex eben um ein Naturprodukt handelt, gewonnen aus dem Milchsaft des Kautschukbaums, es daher vegan, nachhaltig, umweltfreundlich und komplett recycelbar ist. Die daraus hergestellten Klamotten besitzen zudem einen hohen Schutzfaktor. „In Zeiten von Corona", so die „SZ", „erscheint der Latex-Look irgendwie seltsam zeitgemäß. Antiseptisch wie ein OP-Handschuh, abwaschbar, maximal aerodynamisch, um möglichst wenig mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu kommen." Dennoch dürfte die Nachfrage nach modischer Latex-Kleidung wahrscheinlich ziemlich überschaubar bleiben, da das Rubberwear-Image einfach zu sehr durch die Assoziationen mit BDSM und entsprechenden Sex-Clubs belastet ist. Es dürfte von daher für die derzeit daran interessierten Fashion-Labels nicht weiter schwierig sein, genügend Material aus den Hauptanbauregionen des Kautschukbaums, dem Amazonasgebiet oder den asiatischen Staaten Indien, Sri Lanka, Indonesien und Malaysia, zu importieren.
Naturprodukt mit Schutzfaktor
In jüngster Vergangenheit hatten immer wieder eine ganze Reihe von Luxusmarken wie Gucci, Vivienne Westwood, Balmain oder Thierry Mugler versucht, Latex alltagstauglich zu machen. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass das Material, dessen Geschichte bis zum Reich der Assyrer in Mesopotamien um 1600 v. Chr. zurückreicht später in den südamerikanischen Hochkulturen der Mayas und Azteken hochgeschätzt wurde. Seit den Nullerjahren war es etwas aus der halbseidenen Fetisch-Ecke herausgetreten und dank prominenter Ladys oder Filmfiguren als Ausdruck von selbstbewusster, Superwoman-gemäßer Frauenpower verwendet. Beispiele dafür waren die Leinwandblockbuster „Batmans Rückkehr" 1992 mit Michelle Pfeiffer alias Catwoman in schwarzem Latex-Catsuit, „Matrix" von 1999, „Drei Engel für Charlie" aus dem Jahr 2000 oder „Lara Croft: Tomb Raider" 2001. Oder das Latex-Bühnen- und Video-Outfits von Pop-Größen wie Madonna, Janet Jackson, den Spice Girls sowie Britney Spears.
Später sollten sich Stars wie Lady Gaga, die 2009 sogar beim Empfang durch die britische Queen komplett in Rubber aufgetreten war, Miley Cyrus oder Rachel Weisz als Latex-Fans outen, die alle drei treue Kundinnen der japanisch-britischen Latex-Design-Spezialistin Atsuko Kudo sind. Kim Kardashian und Rihanna natürlich nicht zu vergessen. Wobei das ursprüngliche Bild der Powerfrau in Latex schon in den 60er-Jahren durch Diana Rigg alias Emma Peel in der Kultserie „Mit Schirm, Charme und Melone" geprägt worden war. Ganz in ihrem Sinne hatten sich daher 2019 Kim Kardashian auf der Met-Gala und Rachel Weisz bei der Oscar-Verleihung in aufsehenerregenden Rubberwear-Looks gezeigt, die längst auch fester Bestandteil der Garderobe von Gigi Hadid, Kendall Jenner, Katy Perry, Cardi B, Ariana Grande oder Nicki Minaj sind.
Den Auftakt zum Latex-Comeback auf den internationalen Laufstegen für die Winterkollektion 2020/2021 machte in London der Designer Richard Quinn. Doch so richtig Fahrt sollte der Trend dann auf der Pariser Fashion Week aufnehmen, weil mit Saint Laurent, Balmain, Off-White und Balenciaga gleich vier Schwergewichte dabei mitmischten.
Unerwartete Kombinationen
Den Kleidern von Off-White war dank schönen Stickerei-Details jegliche Strenge genommen. Anthony Vaccarello gelang es bei Saint Laurent, seinen hautengen Latex-Kleidern und Leggins, deren Struktur fast wie auf den Body aufgemalt und beinahe zerfließend wirkte, dank der Kombination mit Schluppenbluse oder Blazern eine bourgeoise Note zu verleihen. Das hatte schon durchaus Pep, beispielsweise beim Zusammenspiel eines lilafarbenen Latexrocks mit einer fuchsiafarbenen Schluppenbluse, beim Aufeinandertreffen eines schwarzen Latexoberteils mit einem karierten Goldknopfrock oder beim Mix von Kaschmir-Blazern mit Latex-Leggins. Und konnte zudem ganz im Sinne des Labelgründers Yves Saint Laurent auch als bewusstes Statement wider die feministische Korrektheit verstanden werden.
„Die Saint-Laurent-Frau liebt es, Risiken einzugehen", lautete denn auch der diesbezügliche Kommentar von Anthony Vaccarello. Und weiter: „Ich wollte dieses ausgewogene Verhältnis oder den Spannungsbogen wiederfinden, die den modernen Aspekt des Stils von Saint Laurent definieren, zwischen kontrollierter Strenge und der Aufgabe des Genusses. Saint Laurent ist das Bedürfnis der Eleganz und der Perversion. Das eine wäre ohne das andere nur Bourgeoisie oder Vulgarität." So gut wie jedes Model trug auf dem Catwalk ein Latex-Teil. Das löste sogleich lebhafte Diskussionen aus und brachte der gesamten Kollektion den Sexismus-Vorwurf ein, Stichwort Male-Gaze. Die Frage sollte dabei erlaubt sein, ob Latex per se aus feministischer Sicht abzulehnen sein muss. Die Kollegin Silke Wichert konnte etwaige Bedenken bezüglich des Materials in ihrem „SZ"-Beitrag zwar nachvollziehen, kam aber dennoch zu folgendem Schluss: „Vielleicht muss nicht jedes Kleidungsstück erst mal unter die feministische Lupe genommen werden. Es kommt ja immer noch drauf an, wer und was drin steckt."
Balmain-Chefdesigner Oliver Rousteing hatte zur Präsentation seiner Kollektion eigens seine Busenfreundinnen Kourtney und Kim Kardashian nach Paris einfliegen lassen und sie vorab mit farblich ziemlich gewöhnungsbedürftigen Latex-Catsuits in Karamell und Schokobraun ausstatten lassen. In den Kreationen spazierten die beiden Damen dann publikumswirksam durch die Straßen der Seine-Metropole. Die viel bewunderten Kurven der Ladys kamen dabei natürlich bestens zur Geltung. Auf dem Laufsteg zeigte Rousteing aber nicht nur Rubber-Catsuits, sondern auch aus Latex hergestellte Leggins, Rollkragentops, Blazer und Handschuhe, allesamt wie bei Saint Laurent irgendwie eine glänzend-liquide Optik ausstrahlend. Demna Gvasalia ging bei Balenciaga einen gänzlich anderen Weg im Umgang mit Latex. Denn statt hautengen Klamotten gab es bei ihm weit geschnittene, fast kuttenartige Mantelumhänge zu bestaunen. Ein kleines Latex-Vorspiel hatte es auch schon auf der New York Fashion Week gegeben, auch wenn Sally LaPointe sich im Big Apple auf Latex-Overknee-Stiefel beschränkte und ihren aus Jersey gearbeiteten Tops und Röcken lediglich eine Latex-Allüre verpasst hatte.
Regenmantel von 1824 als Vorbild
Indirekt war natürlich der 1824 entwickelte Mackintosh-Regenmantel der Vorläufer aller modernen Latex-Klamotten. Der Mantel wurde in Großbritannien so beliebt, dass sich in den 20er-Jahren auf der Insel ein erster Fetisch-Club namens „The Mackintosh Society" gründen sollte. Dessen exklusiven Mitgliedern wurde bald schon der Vorwurf perverser sexueller Neigungen gemacht, weshalb außerhalb des besagten Milieus das Tragen von Rubberwear schnell zu einem gesellschaftlichen Tabu wurde. Erst in den 50er-Jahren tauchte Latex wieder ganz vorsichtig in der Fashion-Welt auf, als der britische Designer John Sutcliffe den ersten Rubber-Catsuit entwarf, ursprünglich als Biker-Kluft gedacht, doch schnell nur für den intimen Bereich genutzt. Der Erfolg der TV-Serie „The Avengers" in den 60er-Jahren mit Diana Rigg in der Hauptrolle sollte die Aufmerksamkeit der Designer Vivienne Westwood und Malcolm McLaren auf Latex-Teile lenken. Nach Eröffnung ihrer Boutique „Let it Rock" in der Londoner King’s Road 1972 und der Umbenennung des Ladens in „SEX" zwei Jahre später führten die beiden Inhaber jede Menge Latex-Stücke in ihrem Sortiment.
Sehr zur Freude der Punk-Community, die sich Rubber-Kleidung als äußerliches Kennzeichen der Revolte zulegte. In den 80er-Jahren sprang der Latex-Funken von den Punks ins Londoner Nachtleben über, wurde dort von Ikonen wie der britischen Sängerin Siouxsie Sioux populär gemacht und tauchte auch in Videos zu Songs wie Billy Idols „White Wedding" 1982 oder Frankie Goes to Hollywoods „Relax" von 1984 auf. Etwa zur gleichen Zeit unternahm die Designerin Theresa Coburn den Versuch, alltagstaugliche Latex-Teile fern der Fetisch-Szene zu entwerfen. In New York machte Mitte der 80er-Jahre die Designerin Dianne Brill als Warhol-Muse und „Queen of the Night" Latex-Kleidung zu ihrem persönlichen Markenzeichen.
Zehn Jahre später entdeckte US- Schriftstellerin Candace Bushnell ihr Faible für Latex, etwa zur selben Zeit, in der sie ihre Kolumne „Sex and the City" ins Leben rief. 2003 war Latex plötzlich auf dem Laufsteg angesagt, es war zu sehen in Kollektionen von Christian Dior, Balenciaga und Julien MacDonald. Im Jahrzehnt davor war das Material gelegentlich aber auch schon mal bei Marc Jacobs, Dolce & Gabbana, Jean-Paul Gaultier oder Christian Lacroix verarbeitet worden. 2012 hatte Oscar de la Renta mit einem roten Latex-Top und einem Rubber-Bleistift-Rock für Furore gesorgt. 2015 spielte Latex im Sortiment von Marc by Marc Jacobs und von Christian Wijnants eine Nebenrolle. Eine Hauptrolle hingegen im Pirelli-Kalender 2015, für den sich Gigi Hadid erstmals in Latex ablichten ließ.