Knackpunkt Nord Stream 2: Ohne Gas als Brückentechnologie dürften Atom- und Kohleausstieg in Deutschland schwierig werden. Mit Gas hängt Europa aber immer stärker am russischen Tropf. Die Kritik aus den USA sei also berechtigt, sagen Energieexperten wie Hans-Josef Fell.
Bis vor wenigen Tagen schien es schier unvorstellbar, doch plötzlich ist das bislang Undenkbare realistisch. Buchstäblich auf den letzten Metern könnte die Gaspipeline Nord Stream 2 doch noch scheitern. Eigentlich hätte die Pipeline schon Ende letzten Jahres fertig werden sollen, jetzt droht wegen der Nawalny-Affäre eine weitere Verzögerung – oder gar das Ende des Projekts. Manche fordern gar, die Pipeline als Druckmittel in der Affäre zu nutzen: ein Milliardenprojekt als Druckmittel.
Die Pipeline hatte von Anfang an viele Gegner: Polen und die baltischen Staaten, die Ukraine, Frankreich und die USA lehnten sie aus den unterschiedlichsten Gründen ab. In Deutschland finden sich die Gegner vor allem bei der Union und den Grünen, während aus der Wirtschaft immer auf die Realisierung der Pipeline gedrängt wurde, so etwa zuletzt vom Geschäftsführer des Ostausschusses des Deutschen Wirtschaft, Michael Harms, und auch von Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Insgesamt sind rund 100 Firmen an dem Bauprojekt beteiligt, davon 50 aus Russland. Die beiden wichtigsten sind aus Deutschland, Wintershall und Uniper.
Spätestens seit den Statements von Außenminister Heiko Maas, der das Bauprojekt im Zusammenhang mit Nawalny gebracht hat, ist alles offen. Bislang war die Haltung der Bundesregierung immer die, dass es sich bei der Pipeline um ein wirtschaftliches, kein politisches Projekt handelte – eine mehr als zweifelhafte Behauptung. Allein schon die Hermesbürgschaften machen es zu einem Projekt mit staatlicher Rückendeckung. Wie sieht es aber tatsächlich mit der wirtschaftlichen Bedeutung des Projekts aus, das rund zehn Milliarden Euro kosten dürfte?
Import von Erdgas steigt weiter an
Tatsächlich braucht Deutschland Erdgas mehr denn je. Der Import von Erdgas hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt und steigt in letzter Zeit besonders schnell an. 2019 stieg der Import alleine um 22 Prozent gegenüber dem Jahr davor. Die Deutschen brauchen von Jahr zu Jahr mehr Gas, auch wenn es mal Rückgänge gibt. 1980 waren es 55 Mrd. Kubikmeter, zuletzt kamen 93 Mrd. Kubikmeter – also fast die Hälfte mehr. Nord Stream 2 ist eine Wette darauf, dass das Wachstum weiter geht.
In der Industrie hat Gas schon lange Erdöl als Energieträger verdrängt, beim Heizen dauert das noch an. Knapp die Hälfte aller Haushalte wird inzwischen mit Erdgas geheizt, vor 30 Jahren war es erst ein Drittel. Gleichzeitig sank der Anteil derjenigen, die mit Heizöl heizen, auf ein Viertel. Gas ist praktischer und umweltfreundlicher, und war über lange Zeiträume auch billiger.
Der große Schub könnte aber erst noch kommen, und das liegt an der Energiewende. Bis Ende 2022, also in zwei Jahren, sollen, so ist es beschlossen, 12,5 GW Kohlekraftwerke und neun GW Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Sie sollen den Erneuerbaren, also vor allem der Windkraft, Platz schaffen. Aber was passiert, wenn kein Wind weht, vor allem in der sogenannten Dunkelflaute? Hier müssen flexible Gaskraftwerke einspringen.
Für die Internationale Energieagentur IEA ist klar, dass Gaskraftwerke die wegfallenden Kohle- und Atomkraftwerke ersetzen müssen. So sieht es auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier: Gas werde in den nächsten zwei bis fünf Jahren wegfallende Kohlekapazitäten ersetzen, sagte er kürzlich.
So erlebt Gas im Strommix seit Jahren einen deutlichen Aufschwung: Wurde 1990 erst 6,1 Prozent des Stroms mit Gasturbinen erzeugt, sind es aktuell 15 Prozent. Mit dem Abschalten der Kohle- und Kernenergiemeiler dürften es deutlich mehr werden. Viele Gaskraftwerke, die wegen der billigen Kohle zuletzt kaum zum Zuge kamen, dürften in Zukunft gefragt sein.
Das ist so weit unstrittig, aber die Auseinandersetzung geht darum, ob Gas eine Zukunfts- oder eine Brückentechnologie ist. Hier gibt es offenbar grundlegende Widersprüche unter den Experten und in der Energiebranche. Einerseits beinhaltet die Genehmigung für Nord Stream 2 eine Nutzungsdauer von 50 Jahren. In jedem Fall benötigt die Pipeline eine Amortisationszeit von Jahrzehnten. Andererseits gibt es das auch von der Bundesregierung unterstützte Ziel einer Dekarbonisierung bis 2050. Bis dahin sollte also eigentlich auch das letzte Gaskraftwerk vom Netz.
Für die einen ist Gas ein Übergang in eine Zukunft ohne fossile Energie: „Gaskraftwerke sind die wahren Brückentechnologien, da sie gut kombinierbar sind mit erneuerbaren Energien", sagt die Energie- und Klimaexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Claudia Kemfert.
Der inzwischen von einer grünen Geschäftsführerin geleitete Branchenverband BDEW sieht in Erdgas eine „Schlüsselrolle" bei der Energiewende. „Mit Gas lassen sich die kurzfristigen Klimaschutzziele ebenso einhalten wie die Etappenziele auf dem Weg zur Dekarbonisierung", heißt es hier.
Klimaschutzargument „absurd"
Das Thema Gas spaltet die Energiewelt inzwischen, nachdem Atom- und Kohleausstieg beschlossene Sachen sind, wie kein anderes Thema. Hans-Josef Fell, alter grüner Erneuerbaren-Vorkämpfer, der mit seinem kleinen Thinktank Energy Watch Group für 100 Prozent Erneuerbare kämpft, sagt: „Die USA haben vollkommen Recht mit dem zentralen Argument, dass die EU ihre Energieabhängigkeit von Russland mit dieser Pipeline nicht noch weiter steigern darf." Mit dieser Haltung trifft er bei seiner Partei, den Grünen, kaum auf Widerspruch. Fell befürchtet durch Nord Stream 2 „Erdgasimportkapazitäten, die den aktuellen Bedarf überschreiten und eben höchst klimaschädlich sind."
Die Kapazitäten sind in der Tat beachtlich: Nord Stream 1 hat eine Jahreskapazität von 55 Milliarden Kubikmeter, Nord Stream 2 noch einmal soviel. Die 110 Milliarden Kubikmeter zusammen sind deutlich mehr, als Deutschland verbraucht - und dabei gibt es noch eine Reihe anderer Pipelines.
Fells Schlussfolgerung: „Erdgas ist nicht nur eine Katastrophe für den Klimawandel, sondern spaltet auch zunehmend Nato und EU und trägt damit erheblich zur Destabilisierung des Friedens in Europa und der Welt bei."
Den Wechsel von Kohle zu Erdgas als Klimaschutz zu bezeichnen, hält Fell für „absurd", denn bei Förderung und Transport von Erdgas wird viel Methan – ein sehr wirksames Klimagas – freigesetzt. Deshalb werden die etwas geringeren CO2-Emissionen im Gaskraftwerk gegenüber Kohle in ihrer Treibhauswirkung sogar meist überkompensiert. Nach Studien des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) ist Erdgas nur dann besser, wenn weniger als drei Prozent der geförderten Gasmenge entweicht. In der Realität sind es zwischen drei und sechs Prozent. Ob Gas für das Klima wirklich besser ist als Kohle, ist damit alles andere als klar.
Einige Experten befürchten, dass in Russland wegen der dortigen Förderbedingungen und der langen Pipeline mehr Gas unterwegs entweicht als etwa bei niederländischem und norwegischem Erdgas, den beiden Hauptkonkurrenten für russisches Gas. Die Niederlande wollen in den kommenden Jahren aus der Erdgasförderung aussteigen. Dann wird Deutschland von Erdgas aus Norwegen und vor allem Russland abhängig ein.