Musikalisch bleibt das Trio Biffy Clyro auf „A Celebration Of Endings" unberechenbar. Die Schotten um Sänger und Gitarrist Simon Neil präsentieren aggressive Klänge, zackige Rhythmen und sanfte Streicher. Ein Gespräch über musikalische Abenteuer, die Arbeit in den Abbey Road Studios und das Älterwerden.
Simon Neil, was treibt Sie als Songschreiber an?
Ich möchte gern verschiedene Dinge ausprobieren, das hängt immer von meiner jeweiligen Verfassung ab. Wenn ich mit dem Schreiben für ein neues Album beginne, lasse ich ungefiltert alles raus, was mir in den Sinn kommt. Vor zwei Jahren habe ich etwa 25 Songs für dieses Album geschrieben. Bei manchen hatte ich das Gefühl, dass sie durchaus abenteuerliche Arrangements vertragen können. Andere endeten als pure Pop-Nummern. Ich habe im Lauf der Zeit festgestellt: Wenn man sich zu bewusst ist, was man da gerade tut, dann verlieren die Songs ihre Tiefe. Im Studio kann man den Sound eines Stücks sehr stark verändern, aber die Melodie und das Feeling sind entweder von Anfang an da oder nicht. Sie machen den Charakter eines Liedes aus.
Wie haben sich die einzelnen Songs des Albums im Lauf des Aufnahmeprozesses verändert?
Die Nummer „Cop Syrup" zum Beispiel war zuerst ein Punkrock-Song. Ich wusste nicht wirklich, was ich damit anfangen sollte und hätte nicht gedacht, dass er einmal so klingen würde, wie er jetzt klingt – mit Streichern. Ich wäre anfangs auch nicht darauf gekommen, hier eine Flöte einzusetzen. Aber jetzt weiß ich, dass dieser Song die Flöte von Anfang an haben wollte. Musik machen ist und bleibt für mich ein Mysterium. Und gerade das macht es so spannend. Jede Idee ist es wert, dass man sie ausprobiert. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass man das Resultat nicht mag. Dann löscht man es halt. Wer nichts wagt, wird auch nichts Neues entdecken.
Das Album ist sehr abwechslungsreich. Warum möchten Sie sich nicht auf einen Stil festlegen?
Für mich ist es einfacher, ein abwechslungsreiches Album zu machen. Von unserer ersten Platte an wurden wir immer wieder gefragt, was für eine Band wir seien. Eine Akustikband? Punkrocker? Prog-Rocker? Ich liebe es, dass wir ein bisschen von allem sind. Der Mensch ist ohnehin ein sehr komplexes Wesen. Ich finde eine Gruppe wie Pantera genauso toll wie die Red House Painters, weshalb beide meine Musik beeinflusst haben. Genres interessieren mich schon lange nicht mehr.
Drückt das Album sämtliche Seiten Ihrer komplexen Persönlichkeit aus?
Genau das ist der Plan bei jeder Platte, die wir machen. Man kann verschiedene Emotionen nicht durch ein und denselben Sound vermitteln. Wir drei sind Freunde seit unserem siebten Lebensjahr. Wir tun nicht so als ob, sondern wir sind wirklich noch dieselben Leute, die wir mit 21 waren. Natürlich habe ich heute einen anderen Blick auf das Leben und andere Vorstellungen von Musik. Ich bin ein fucking Musiker, der immer wieder etwas Neues an sich selbst entdeckt. Ich möchte ein besserer Ehemann, Freund, Mensch und Songschreiber werden. Manche Menschen fürchten sich vor Veränderung, aber nur sie lässt uns wachsen.
Voriges Jahr sind Sie 40 geworden. Ein Wendepunkt in Ihrem Leben?
Ich dachte in meinem 39. Lebensjahr, ich sei auf diesen Termin vorbereitet. Aber je näher er rückte, desto depressiver wurde ich. Das hatte damit zu tun, dass ich mich noch gut daran erinnern kann, wie meine Eltern 40 wurden. Dieser Geburtstag traf mich hart. Aber dann sagte ich zu mir: Scheiß drauf! Ich spiele immer noch Musik mit meinen Kumpels aus Teenagertagen. Ich bin 40, aber ich fühle mich nicht so. Ich fühle mich jetzt sogar stärker. Mit 20 wollte ich cool sein und über coole Dinge schreiben. Jetzt will ich einfach nur gute Musik machen, die die Zeit überdauert. Ich möchte mich als Person und als Musiker weiterentwickeln.
Befürchten Sie, dass Ihre Band durch die Corona-Krise ein wenig in Vergessenheit geraten könnte?
Solche Gedankenspiele machen mir keine Angst mehr. Ich fände es ganz fürchterlich, wenn wir krampfhaft versuchen würden, eine große Band zu bleiben. Darin sehe ich nichts Inspirierendes. Ich hoffe einfach, dass unsere neue Platte gut ankommt und wir weiterhin touren können, wenn die Corona-Krise vorbei ist. Wir sind, wer wir sind: eine Rockband mit einem dummen Namen. Manche hassen unsere Musik. Damit kann ich leben, weil ich weiß, dass andere uns wirklich mögen.
Waren Sie an Ihrem 40. Geburtstag im Studio, um an dem Album zu arbeiten?
Nein, ich hatte mir ein Wochenende freigenommen. Wir waren gerade mitten in einer Session für das Album, als James (Johnston, Bass; Anm. d Red.), Ben (Johnston, Schlagzeug), Francesa (Neil; seine Frau) und ich uns ein Cabrio mieteten und von Los Angeles nach Palm Springs fuhren, um meinen Geburtstag zu feiern. Wir verbrachten drei tolle Tage in der Wüste. Bei 46 Grad Celsius um Mitternacht! Ich muss jedoch gestehen, dass ich am glücklichsten bin, wenn ich Musik mache. Das klingt vielleicht kitschig, aber 40 zu werden und unser achtes Album als Band aufzunehmen, war ein unglaublich schönes Gefühl. Bereits am darauffolgenden Montag waren wir wieder im Studio. Musik sollte Spaß machen, aber man muss sie auch ernst nehmen. Wir könnten alle sechs Monate ein Album raushauen, wenn wir es müssten, aber wir wollen lieber etwas Bleibendes erschaffen.
Biffy Clyro wird dieses Jahr 25. Ein stattliches Alter für eine Band. Wie vermeiden Sie Routine?
Ich war 15, als alles begann. Seitdem sind 25 Jahre vergangen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass es uns immer noch gibt. Das hat etwas mit Freundschaft zu tun. 1995 habe ich übrigens auch meine heutige Ehefrau kennengelernt. Ich habe also die wichtigsten Entscheidungen meines Lebens mit 15 Jahren getroffen. Mit 15 benimmt man sich eigentlich wie ein Idiot! Ich bin wahrscheinlich die große Ausnahme von der Regel. Wir waren damals drei Freunde, die zusammen Musik machen wollten. Wir hatten keine Ahnung, wie man einen Plattenvertrag bekommt oder eine Show spielt. Jeder Schritt, den diese Band seitdem gemacht hat, war eine wundervolle Entdeckung. Deshalb haben wir immer noch Spaß an Biffy Clyro, die sich bis heute keine längere Auszeit gegönnt haben. Es ist wichtig, hungrig zu sein, aber man darf dem Erfolg nicht blind hinterherrennen.
Können Sie eigentlich auch relaxen?
Ich glaube, keiner von uns hat das je getan. Aber heute genieße ich den Moment mehr als früher. Die meisten meiner Lieblingsbands haben nicht mehr als drei, vier Alben gemacht. Wir hingegen haben es bereits auf acht gebracht. Wenn es gut läuft, fühlen wir uns wie 20. Als würden wir gerade unseren ersten Song schreiben. Im Studio schreien wir manchmal vor Freude „Fucking yes!". Dieses Gefühl hält uns bei der Stange. Ich kann es kaum erwarten, die neuen Lieder vor Publikum zu singen.
Wie fühlen Sie sich eigentlich in der heutigen Zeit?
Wir befinden uns in einer sehr komischen Zeit. Ironischerweise macht mich das sogar optimistisch, weil ich versuche, mehr im Moment zu leben. Ich lasse nur noch Menschen in mein Leben, die etwas Positives ausstrahlen. Dasselbe Gefühl möchte ich meinem Mitmenschen vermitteln. Das Leben ist zu kurz, um es mit fucking Nonsens zu verbringen. Ich möchte mich um meine Nachbarschaft kümmern, ich möchte empathisch und aufrichtig sein.
Sollten Künstler mehr Haltung zeigen?
Bei dieser Platte ist es mir schwergefallen, das Thema Politik komplett zu ignorieren. Die Gesellschaft in Großbritannien ist dabei, sich zu spalten. Für mich ist es schwer zu ertragen, in einem Land zu leben, in dem die Mehrheit anders denkt und fühlt als ich. Diese Stimmung ist in das Album mit eingeflossen. Manche Leute treffen große Entscheidungen, die sich am Ende als falsch erweisen – aber sie machen andere dafür verantwortlich. Die Briten haben sich mehrheitlich für den Brexit entschieden, dann dürfen sie sich auch nicht beklagen, wenn sie jetzt an den Grenzen Schlange stehen müssen. Leute, zeigt ein bisschen mehr Verantwortung für euer Handeln! Die Teenager, die jetzt gegen die Klimapolitik demonstrieren, werden als Erwachsene viel mehr Verantwortung zeigen müssen als wir. Ich bin niemand, der sich auf die Zunge beißt, wenn die Situation schwierig wird. Wir können aus der Vergangenheit Gutes und Schlechtes lernen, aber wir müssen nach vorne schauen und uns eine neue Realität erschaffen. Dieses Jahrhundert hat gerade erst angefangen.
Ist Rock heute nicht schon total am Ende? Verbraucht, abgegriffen, abgenudelt, angepasst, alles schon mal da gewesen?
Das, was ich gerade sagte, gilt auch für die Rockmusik. Viele meiner Lieblingsalben sind in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren entstanden. Lasst uns aufhören, diese Platten nachzubauen! Wir sollten lieber eigene fucking Klassiker erschaffen. Es wäre toll, wenn man sich 2060 an „A Celebration Of Endings" als Meilenstein des Jahres 2020 zurückerinnern würde. Und ich akzeptiere kein Nein! (lacht)
Wie fühlt es sich an, in den legendären Abbey Road Studios in London Musik zu machen?
Es fühlt sich zugegebenermaßen ein bisschen nostalgisch an, aber auch sehr lebendig. Ich glaube, Abbey Road ist noch genauso magisch wie zu Zeiten der Beatles. Wir sind dort nicht wegen der Nostalgie hingegangen, sondern wir hatten sehr ungewöhnliche Songs geschrieben, die wir unbedingt an diesem Ort arrangieren wollten. „Cop Syrup" war einer der ersten Songs, den wir in der Abbey Road mit Streicherarrangements versehen haben. Es ist unsere Idee von Popmusik 50 Jahre nach den Beatles. Als Rockfans brauchen wir neue Ikonen, aber wir sollten auch historische Stätten wie Abbey Road und die fucking Hansa Studios in Berlin wertschätzen.
Neues Album: Biffy Clyro „A Celebration of Endings" (Warner Music)