Für viele war der Pflegeberuf ein Kindheitstraum. Doch nach der Ausbildung hat weit über die Hälfte der Mitarbeiter die Nase voll – Arbeitsaufwand und Entlohnung stehen sich diametral gegenüber.
Morgens um kurz vor fünf sitzt Thomy in der Küche seines kleinen Apartments in Berlin-Wilmersdorf. Der 54-Jährige dreht sich noch schnell eine Zigarette, auf dem Küchentisch dampft sein frischer Kaffee. Bis 15 Uhr werden dies heute seine letzten ruhigen Minuten sein. Tief inhaliert er den Rauch, schlürft dazu genüsslich den Kaffee. Keine halbe Stunde später sitzt er auch schon auf seinem Motorroller, „alle anderen Fortbewegungsmittel verbieten sich in einer Stadt wie Berlin, wenn du bei jedem Termin pünktlich auf die Minute sein musst", erzählt Thomy über seinen „Just in Time"-Job und lächelt. Er ist Altenpfleger. „Da die Taktung der Aufträge immer dichter und die Verdienstmargen immer enger werden, habe ich mir meinen Kundenkreis in den letzten Jahren auf einen Radius von maximal 20 Kilometern gelegt." Das sich der Kreis auf Wilmersdorf, Steglitz, Zehlendorf und Wannsee erstreckt, hat nicht nur mit seinem eigenen Wohnort zu tun, wie er es versucht, einem glaubhaft zu machen. Vielmehr hat man es im wohlhabenden Berliner Südwesten immer wieder auch mit Pflegebedürftigen zu tun, wo auch mal ein Trinkgeld drin ist. Doch darüber spricht man als Pflegekraft nicht. Im Stundentakt hetzt der 54-Jährige nun von „Kunden zu Kunden." Je nach Anforderung dauert der Einsatz 30 bis 40 Minuten, „man will sich ja auch mit den Menschen unterhalten und nicht nur mechanisch seinen Dienst absolvieren". Doch gerade jetzt in Corona-Zeiten hat sich sein Job verschärft. „Da gab es die älteren Menschen, die mich plötzlich nicht mehr reingelassen haben, aus Angst, ich könnte sie infizieren. Die haben sich dann beispielsweise tagelang nicht mehr gewaschen", erzählt er. Umgekehrt gab es Menschen, „die mich gar nicht mehr gehen lassen wollten, weil ihr Seniorentreff oder ihre Canasta-Runde nicht mehr stattgefunden hat." Er hat sich dann die Zeit genommen und mal alle fünfe gerade sein lassen, „auch wenn ich dann unterm Strich draufgezahlt habe, aber man kann die Menschen doch nicht alleine lassen in so einer Situation." Die Menschen die von Thomy gepflegt werden haben damit während der Pandemie doppelt Glück. Er hat sich die Zeit genommen. Vor allem aber, er ist überhaupt gekommen.
„Pflege ist kein Nebenjob"
Denn nach der Grenzschließung Ende März wurde eines offenbar: Das deutsche Pflegewesen ist über Gebühr abhängig von Pflegekräften aus den umliegenden EU-Staaten. Gerade im Osten der Republik und Bayern wurde dies deutlich. Viele zu Pflegende standen plötzlich ohne ihre Helfer da, weil die nicht mehr kommen durften. Für den Präsidenten des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, ein unhaltbarer Zustand, der ihn aber nicht überrascht. Wagner hat selbst 1979 seine Pflegeausbildung gemacht; in einer Zeit, in der ein Großteil der Einrichtungen noch in teilstaatlicher Hand war. „Damals wäre es undenkbar gewesen, dass wir zum einen die Pflege flächendeckend an Freiberufler übergeben und uns dann obendrein noch hauptsächlich auf Kräfte verlassen, die hier bei uns gar keinen Wohnsitz haben, sondern anreisen müssen." Dass es so weit gekommen ist, liegt vor allem daran, „dass man mit dem Lohn aus der Pflege keine Familie und schon gar keine Wohnung in der Berliner Innenstadt finanzieren kann, das funktioniert nicht, das ist ein Job für Singles", pflichtet Pfleger Thomy dem Präsidenten bei. Kurios: Schon lange ist es kein Geheimnis, dass Deutschland keinen Pflegekräftemangel hat. „Ausgebildete Pflegkräfte gibt es genügend in Deutschland", so der Präsident des deutschen Pflegerates. „Doch spätestens wenn es darum geht, eine Familie zu gründen, gehen die meisten Pflegekräfte auf Halbtagsarbeit oder gleich ganz raus aus dem Job und kümmern sich um ihre Kinder." Franz Wagner kann das nur zu gut verstehen, „wenn ich sowieso mit der Arbeit meine Familie nicht richtig ernähren kann, dann kümmere ich mich um die Familie und mache die Pflege nur noch als Nebenjob." Der 64-Jährige weist immer wieder gern darauf hin, das Pflege eben kein Nebenjob ist, sondern die volle Aufmerksamkeit nicht nur des Ausübenden verlangt, sondern auch der Arbeitgeber bei der Bezahlung. Über das leidige Thema eines Flächentarifvertrages will Franz Wagner gar nicht debattieren, diese Debatte sei so alt wie das Pflegegesetz selber.
Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will darüber gar nicht groß lamentieren. „Natürlich wäre es schön, wenn man alle Anbieter von Pflegedienstleistungen in Deutschland an einen Tisch bekommen würde, aber dazu ist das System zu virulent", betont Spahn. Soll heißen: Es gibt viel zu viele Dienstleister im Pflegebereich, obendrein sind die Einzelanforderungen derart unterschiedlich, dass sich dies in einem einheitlich flächendeckenden Tarifvertrag überhaupt nicht mehr unterbringen lässt, selbst wenn man es wollte. Wobei Jens Spahn einen guten Ruf auf der Großbaustelle Pflege bei allen Beteiligten genießt. Seit seinem Amtsantritt hat er diesbezüglich 20 Bundesgesetze auf den Weg gebracht, was kein Bundesminister bei der Pflege vor ihm innerhalb von drei Jahren geschafft hat. Sein neuester Wurf ist nun der vermehrte Einsatz von nicht voll ausgebildeten Hilfskräften in vollstationären Pflegeeinrichtungen. 20.000 dieser Pflegehilfskräfte sollen dort zukünftig die angespannte Personalsituation entspannen. Hintergrund zu diesem Plan ist offenbar das Kalkül: Kommen 20.000 Hilfskräfte in die Heime, wird so wiederum voll ausgebildetes Fachpersonal für die ambulante Pflege freigemacht. Denn in der häuslichen Pflege wird es schwierig, mit nur teilausgebildeten Kräften zu pflegen. Der neueste Spahn-Pflegeplan stößt zumindest beim Berufsverband für Pflegeberufe auf wenig Gegenliebe. Ihre Präsidentin Christel Bienstein hält das alles für Hokuspokus bei der Personalberechnung. „Mit der Einstellung von 20.000 Hilfskräften ohne qualifizierte Ausbildung wird die äußerst angespannte Situation in der stationären Langzeitpflege nicht gelöst", so Bienstein. „Aus diesen Überlegungen spricht ein falsches Verständnis von guter Versorgung. Bei guter Pflege geht es darum, die Bedürfnisse der Menschen zu erkennen und die Versorgung entsprechend zu planen. Und das muss man können. Hier scheint man wieder nur einzelne Tätigkeiten, die irgendwer verrichten soll, im Kopf gehabt zu haben." Auch Pfleger Thomy hält diesen Plan für ziemlich durchgeknallt. „Es macht doch keinen Sinn, beinahe gar nicht ausgebildete Pflegekräfte in die Kliniken zu setzen und auf zehn von denen kommt dann einer, der überhaupt weiß, worum es geht."
Auf 100 Stellen kommen 27 Bewerber
Ebenfalls mit zuständig für die Altenpflege ist Bundesfamilien- und Seniorenministerin Franziska Giffey. Auch sie weiß um die prekären Zustände; sowohl bei der Pflege selbst als auch bei den Beschäftigten. Darauf angesprochen wird die sonst munter vor sich hin Sprechende dann recht einsilbig. „Schnell werde die Aufhebung der Personalmisere bei der Pflege nicht gehen, der Pflegebedarf wachse schließlich enorm. Heute würden 3,7 Millionen Menschen in Deutschland gepflegt, bis 2030 steige die Zahl auf 4,6 Millionen." Giffey verweist auf den traurigen Umstand, dass auf 100 gemeldete freie Stellen in der Altenpflege nur 27 Bewerber kommen. Der Beruf ist nicht beliebt, vielleicht liegt es ja auch an den Arbeitszeiten und der Bezahlung. Für Krankenpfleger Thomy aus Wilmersdorf heißt dies, dass er mit viel Glück mit 75 in Rente gehen kann, wenn dann die neue Ausbildungsoffensive der Hilfspfleger greift – dazu bedarf es dann allerdings noch zahlreicher eingeflogener Pflegekräfte von den Philippinen und aus Vietnam. Übrigens auch so eine Idee aus der Spahnschen Pflegekräftezauberkiste.