Spermien bewegen sich nicht schlängelnd fort, sondern nach Art eines Korkenziehers. Das hat ein internationales Forschungsteam herausgefunden – und stellt somit eine tradierte, rund 350 Jahre alte Lehrmeinung auf den Prüfstand.
Paare, die Probleme bei der Erfüllung ihres Kinderwunsches haben, scheuen oft weder Kosten noch Mühen, um sich ihren Traum von Nachwuchs zu erfüllen. Daher mutet es ziemlich befremdlich an, dass die moderne Reproduktionsmedizin weltweit rund 350 Jahre lang einem fundamentalen Irrtum aufgesessen war. Denn in der wissenschaftlichen Lehrmeinung war man bislang davon ausgegangen, dass sich die Samenzellen auf ihrem Weg zur Eizelle ähnlich wie Aale fortbewegen – indem sie ihr Geißel oder Flagellum genanntes Schwänzchen schlängelnd hin- und herbewegen. Das war auch genauso in zahllosen Animations-Lehrfilmen zur menschlichen Fortpflanzung zu sehen. Oder auch auf der Kinoleinwand, beispielsweise 1972 in Woody Allens satirischem Episodenstreifen „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten".
Das korrekte Verständnis der Spermien-Bewegung wird als eine der elementaren Voraussetzungen dafür gesehen, um Fortschritte in der Fortpflanzungsmedizin erzielen zu können. Weil eine unzureichende Beweglichkeit von Spermien – im Fachjargon „Spermienmotilität" genannt – oftmals die Befruchtung der Eizelle verhindern kann. Die größten Chancen, einer etwaigen Unfruchtbarkeit oder Infertilität vorzubeugen, dürften Spermien mit dem höchsten Motilitätsgrad „A" haben. Dieser wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO als „progressiv beweglich" eingestuft.
Die gängige Vorstellung von einem Wettrennen mehrerer Millionen Spermien wurde übrigens schon 2014 durch eine Gemeinschaftsstudie der University of Washington und des Universitätsklinikums Essen widerlegt. Die Forscher konnten eher eine die Geschwindigkeit erhöhende Zusammenarbeit der Samenzellen auf dem Weg zur Eizelle nachweisen. In deren Nähe würden letztlich aber nicht mal 100 Spermien gelangen. Zudem hatten die Wissenschaftler wechselnde Spermien-Schwimmtechniken sowie Rotationen des Spermienkopfes und der gesamten Samenzelle um ihre Längsachse konstatieren können – ohne dabei jedoch die schlängelnde Aal-Bewegung grundlegend infrage zu stellen.
Als Begründer dieser Theorie gilt übrigens der 1632 in Delft geborene niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek. Dieser wurde vor allem für seine technische Weiterentwicklung früher Lichtmikroskope bekannt, mit deren Hilfe er unter anderem Bakterien, rote Blutkörperchen und 1677 eben auch die Bewegung von Spermien nachweisen konnte. Für die damalige Zeit waren die Geräte Hightech, und van Leeuwenhoek konnte unter dem Mikroskop erkennen, dass sich die Spermien schwimmend vorwärtsbewegten, scheinbar dank ihrer in beide Richtungen ausschlagenden Geißel. Er leitete daraus ab, dass die Bewegung der Geißel gleichmäßig sein und wie bei einem sich schlängelnden Aal funktionieren musste.
Antoni van Leeuwenhoek kann keine Absicht unterstellt werden, da er mit seinem zweidimensionalen Mikroskop schlicht und einfach Opfer einer optischen Illusion geworden war – an Dreidimensionales war damals nicht zu denken. Zumal in den meisten Kliniken und Forschungseinrichtungen der Reproduktionsmedizin auch heute noch die computergestützten Samenanalysesysteme nur 2-D-Ansichten zur Spermienbewegung liefern können. Das dabei ablesbare Ergebnis wurde einfach auf Dreidimensionales übertragen: Man ging davon aus, dass die Spermien dank eines symmetrischen, peitschenartigen Antriebs der Geißel eine spiralförmige Vorwärtsbewegung vollführen.
Ein Rätsel wurde genial gelöst
Dass es sich dabei nur um eine optische Täuschung gehandelt hat, hat nun ein Team von britischen und mexikanischen Forschern der Universitäten Bristol und Mexiko unter Leitung von Dr. Hermes Gadelha nachgewiesen. Ihre Untersuchungen wurden Ende Juli im Fachmagazin „Science Advances" veröffentlicht. Die Wissenschaftler benutzten hochmoderne 3-D-Mikroskope, die mit einer 3-D-Hochgeschwindigkeitskamera kombiniert wurden, die 55.000 Bilder pro Sekunde aufnehmen konnte. Die Spermaproben von 30 Probanden wurden durch elektrische Spannung zum Fließen gebracht und konnten dabei in 3-D gescannt werden. Die grundlegende Erkenntnis war, dass der Schwanz der Spermien nur nach einer Seite ausschlägt, was eigentlich nur eine Fortbewegung im Kreis ermöglichen würde. Um eine geradlinige Vorwärtsbewegung zu erzielen, schrauben sich die Spermien gleichzeitig wie Korkenzieher voran und rotieren mit dem Kopf sowie um ihre eigene Längsachse.
Der bisherige Aal-Vergleich wurde von den Forschern durch eine neue Tieranalogie ersetzt: „Menschliche Spermien haben herausgefunden", so Hermes Gadelha, „dass sich ihre einseitigen Schwimmbewegungen ausgleichen lassen und sie vorwärts schwimmen können, wenn sie sich beim Schwimmen ähnlich wie verspielte Otter rollen und sich dabei wie Korkenzieher durchs Wasser fortbewegen. Das schnelle und synchrone Drehen sieht mit einem 2-D-Mikroskop von oben betrachtet aus wie eine gleichmäßige Bewegung der Geißel in beide Richtungen." Diesem Otter-Trick verdanken die Spermien letztlich die Fähigkeit zum Geradeaus-Schwimmen. „Die Spermien haben eine Schwimmtechnik entwickelt, um ihre Einseitigkeit auszugleichen und somit ein mathematisches Rätsel im mikroskopischen Maßstab genial gelöst, indem sie Symmetrie aus Asymmetrie erzeugen", so der Forschungsleiter.
Die Wissenschaftler hoffen, dass ihre verblüffenden Studienergebnisse zu Fortschritten in der Fortpflanzungsmedizin beitragen können. „Mehr als die Hälfte der Fälle von Unfruchtbarkeit geht auf männliche Faktoren zurück", erklärt Hermes Gadelha und fügt an: „Das Verständnis der Spermienfortbewegung ist daher von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung zukünftiger Diagnosewerkzeuge zur Identifizierung gesunder Spermien." Studien-Co-Autor Prof. Alberto Darszon von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko ergänzt: „Es ist so wenig bekannt über die komplizierte Umgebung innerhalb des weiblichen Fortpflanzungstrakts und darüber, wie sich das Schwimmen der Spermien auf die Befruchtung auswirkt. Die neuen Werkzeuge könnten uns nun die Augen für die erstaunlichen Fähigkeiten öffnen, die Spermien besitzen."
Sein Kollege Dr. Gabriel Corkidi verspricht sich für die Zukunft viele neue Erkenntnisse durch die 3-D-Technik: „Wir glauben, dass unser hochmodernes 3-D-Mikroskop noch viele weitere verborgene Geheimnisse der Natur enthüllen kann. Und eines Tages könnte diese Technologie auch für klinische Zentren verfügbar sein."