Bislang sah der Deal so aus: Griechenland bekommt Geld und soll zusehen, wie es den Flüchtlingsansturm bewältigt. Doch nachdem das größte Flüchtlingslager auf Lesbos abgebrannt ist, steht dieses Modell zur Disposition. Die EU-Kommission will sich nun stärker selbst engagieren.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) mag diese Termine nicht, bei denen er die politische Quadratur des Kreises erklären muss. Es geht um die Frage, warum Deutschland nur vergleichsweise wenige Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria auf Lesbos aufnehmen wird, und man trotzdem um eine humanitäre Lösung bemüht ist. Damit macht man sich politisch nur unbeliebt. Das Kanzleramt hat ihn nicht gebeten, sondern mehr oder weniger angewiesen, in einer Pressekonferenz die Haltung der Bundesregierung zur Flüchtlingsaufnahme darzustellen. Weitere Haken an dem Auftrag: Seehofer soll dabei die Bundesregierung nicht als Ganzes explizit erwähnen, sondern den Eindruck erwecken, es handele sich um seine Meinung, aber im Regierungsauftrag. Der Bundesinnenminister ist ein alter Fuchs und hat solche Aufträge schon unzählige Male in seinem Leben erledigt. Aber er mag sie sichtlich nicht. Entsprechend misslaunig verkündet der Minister, dass er sich vorstellen könne, 100 bis 150 unbegleitete Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, vielleicht auch mehr, ein erster Schritt, und so weiter. Er verwahrt sich damit gegen eine Initiative von einer ganzen Reihe von Kommunen, die freiwillig angeboten haben, unbegleitete Minderjährige aus Moria sofort aufzunehmen. Doch Seehofer ist strikt dagegen, „dies wäre das falsche Signal an alle anderen Flüchtlingslager". Der 71-Jährige folgt damit einer Logik, die auch von der griechischen Regierung getragen wird.
Die Sicherheitsbehörden auf Lesbos gehen davon aus, dass die Bewohner selber ihr Lager angesteckt haben, um von der Insel runterzukommen. Der Bundesinnenminister befürchtet nun: Nimmt Deutschland unbegrenzt obdachlos gewordene Flüchtlinge aus Lesbos auf, könnte dies dazu führen, dass auch andere Lager von ihren Bewohnern angesteckt werden. Wobei Seehofer auch die europäische Karte ausspielt. Wenn man tatsächlich helfen will, dann „geht dies nur im Rahmen einer europäischen- und nicht als nationale Lösung. Hier sind alle gefragt", so Seehofers Credo bereits im FORUM-Interview im März.
Seehofer für europäische Lösung
Eine europäische Lösung heißt für Seehofer: ein Verteilschlüssel, wonach jedes der 27 EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen der humanitären Hilfe vor allem nach seiner Bevölkerungszahl gerechnet anteilmäßig Flüchtlinge aufnehmen würde. Doch über diesen Schlüssel wird bereits seit fünf Jahren diskutiert. Vor allem die osteuropäischen EU-Mitglieder sind nicht gewillt, da mitzumachen.
Gleichzeitig erklären sich immer wieder einzelne Städte oder Bundesländer zur Aufnahme von Flüchtlingen in Eigenregie bereit. Berlin hat so einen Vorstoß im Sommer versucht. Jetzt, nach dem Feuer in Moria, war Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans einer der ersten Unionspolitiker, der sich bereit erklärte, zumindest unbegleitete Minderjährige in seinem Land aufzunehmen. Doch Bundesinnenminister Seehofer bleibt bei seiner Ablehnung, beharrt auf einem europäischen Verteilschlüssel der 27 EU-Staaten. „Einzellösung für Städte und Kommunen sind nun überhaupt kein Weg", Flüchtlinge sind Bundesangelegenheit. Der 71-Jährige hat dafür eine recht simple Begründung. Die Städte und Kommunen können nicht garantieren, dass die aufgenommenen Flüchtlinge auch tatsächlich in den zugewiesenen Aufnahmeeinrichtungen bleiben würden, so Seehofer gegenüber FORUM.
Der CSU-Innenminister musste dann auch noch ein Störmanöver ausgerechnet aus München ertragen. Nach einigem Zögern, erklärte dann Bayerns Ministerpräsident Söder, die Bundesregierung solle den Anteil der Aufzunehmenden aus Moria „noch mal substanziell aufstocken". Es sei „für Deutschland machbar, da noch einen deutlich höheren Anteil aufzunehmen", ließ Markus Söder plötzlich per „Bild"-Zeitung seinen Unionsparteifreunden mitteilen. Bundesinnenminister Horst Seehofer selbst staunte nicht schlecht, dass sein CSU-Chef Söder, der seinerzeit für die Flüchtlings-Obergrenze und Aufnahmezentren gekämpft hat, sich überraschend deutlich an die Position der SPD angenähert hat. SPD-Chefin Saskia Esken hatte dem Kanzleramt ein Ultimatum gestellt und mit der Einberufung des Koalitionsausschusses gedroht. Ihre Forderung, mehrere Tausend Menschen aus Moria müssen nach Deutschland geholt werden. Es müsse „eine hohe vierstellige Zahl" sein, so Esken. Das wären dann wohl deutlich mehr als 5.000. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz musste daraufhin seine Parteichefin und ihr gestelltes Ultimatum mehr oder weniger auf dem politischen Parkett erst mal wieder einfangen. Wenn man gemeinsam regiert, ist so was dann nicht nur unhöflich, sondern schlechter Stil. Vor allem, wenn man die Regierung im Rahmen der Legislatur gemeinsam zu Ende bringen will.
Olaf Scholz zeigte sich fortan optimistisch, dass Deutschland „zusätzlich Geflüchtete im vierstelligen Bereich" aufnehmen wird. Also vielleicht Tausend, oder ein paar mehr, aber nicht gleich fünftausend, wie von Saskia Esken gefordert. SPD-Kanzlerkandidat Scholz ist sich also einig mit seinem möglichen Gegenkandidaten bei der kommenden Bundestagswahl, Markus Söder.
Deutschland nimmt 1.500 Flüchtlinge auf
Der Kompromiss war damit in der Regierung relativ schnell gefunden. Deutschland wird in humanitären Härtefällen Flüchtlinge aufnehmen, es dürften wohl doch rund 1.500 werden – aber vor allem soll nun vor Ort geholfen werden. Deutschland wird sich am Bau eines neuen Flüchtlingszentrums auf der Insel Lesbos beteiligen. Im Klartext: Es kommt Geld aus Berlin. Dazu gibt es die Überlegungen, „dass ein solches Flüchtlingslager sowohl von den griechischen Behörden und gegebenenfalls auch von den Agenturen der Europäischen Union mitgeleitet werden kann", so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Europa will sich auch anderweitig vor Ort mehr engagieren. Zum Beispiel mit dem Aufstocken der Frontex-Kräfte, den Beamten der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache.
Bei der ganzen aufgeregten Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannten Lager Moria hatten die Beteiligten in Deutschland übrigens eines vergessen: die Position Griechenlands. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis klärte in einem Telefonat schließlich die Kanzlerin auf, dass er nicht gewillt ist, auch nur einen einzigen Flüchtling von Lesbos auszufliegen. Denn das Modell könnte Schule machen, und dann würden weitere Flüchtlingslager brennen. Eine Position, die auch Horst Seehofer von Anfang an vertreten hatte. Mitsotakis fragte bei Angela Merkel nach, ob Deutschland nicht die anerkannten Asylbewerber aufnehmen könnte. Diese leben längst nicht mehr auf den griechischen Inseln, sondern in halbwegs geordneten Verhältnissen im Landesinneren, doch damit macht man momentan keine Schlagzeilen.