Unter Donald Trump verschwindet die Kategorie des politischen Skandals
Wenn es so etwas wie die Geburtsstunde des modernen politischen Skandals gibt, dann ist es die große Schmutzkampagne rund um Watergate. Der Einbruch in das gleichnamige Hotel in Washington, in dem sich Anfang der 70er-Jahre das Hauptquartier der Demokratischen Partei befand, wurde zum Sinnbild für Macht- und Amtsmissbrauch, Vertuschung und Lüge um des eigenen politischen Vorteils willen.
Der republikanische US-Präsident Richard Nixon, der die Maschinerie in Gang gesetzt hatte, musste am 9. August 1974 zurücktreten. Zu erdrückend waren die Indizien und Beweise, die Bob Woodward und Carl Bernstein, die legendären Investigativ-Reporter der „Washington Post", ans Licht der Öffentlichkeit zerrten.
Wann immer danach in der Politik getrickst, getäuscht und gefoult wurde, musste die Silbe „-gate" herhalten – und erzeugte damit unausgesprochen die Parallele zu Watergate, dem ultimativen Polit-Skandal. „Irangate" stand 1986 in der Reagan-Ära für den Verkauf von US-Waffen an das Mullah-Regime; das Geld ging an die rechtsgerichteten Contra-Rebellen in Nicaragua. 1987 wurde die Barschel-Affäre mit dem unrühmlichen „Ehrenwort" als „Waterkantgate" etikettiert. 2013 hörten die Amerikaner das Mobiltelefon von Bundeskanzlerin Angela Merkel ab und sorgten für das „Handygate".
Jedes Mal war die öffentliche Empörung groß, wenngleich die Schockwellen von Watergate unerreicht blieben. Und heute? Im Zeitalter von US-Präsident Donald Trump ist die Kategorie des politischen Skandals verschwunden. Es gibt keine Enthüllungen mehr, denn Trump enttabuisiert den Tabubruch, indem er das Tabu als selbstverständliche Realität umdeutet.
Ausgerechnet am neuesten Buch des Watergate-Aufdeckers Bob Woodward wird dies deutlich. In dem Werk, das in dieser Woche in Amerika unter dem Titel „Rage" – auf Deutsch „Wut" – erschienen ist, demaskiert Woodward den Präsidenten als Staatschef, der seinen Bürgern die tödliche Gefahr des Coronavirus wissentlich verheimlicht. Atemberaubend: Trump selbst hat dem Journalisten in 18 Interviews Rede und Antwort gestanden.
Am 7. Februar bezeichnet der Präsident das Coronavirus laut Woodward als „tödliches Zeug". Es sei auch „tödlicher als die Grippe". Und: „Du atmest die Luft, und so wird es übertragen." Bereits am 28. Januar hatte Trump durch seinen Nationalen Sicherheitsberater Robert O’Brien Kenntnis von der epochalen Bedeutung der Pandemie: „Dies wird die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit während Ihrer Präsidentschaft."
Trump kehrt sein Wissen unter den Teppich, fährt eine haarsträubende Verharmlosungstaktik und macht auf Optimismus: „Wir haben alles unter Kontrolle", prahlt er am 30. Januar im Bundesstaat Michigan. Knapp zwei Wochen später, am 10. Februar, schwadroniert er: „Es sieht so aus, als würde das Virus schon im April, wenn es etwas wärmer wird, auf wundersame Weise verschwinden." Am 24. März, als die Infektionszahlen in den USA rasant ansteigen, kündigt er an, das Land in drei Wochen – an Ostern – wieder zu öffnen.
Der Höhepunkt der Selbstbezichtigung findet am 19. März statt. An dem Tag vertraut Trump Woodward an: „Ich wollte das immer herunterspielen. Ich spiele das immer noch herunter, weil ich keine Panik erzeugen will." Der Präsident sieht sich als Cheerleader der Nation, als Anfeuerer, der gute Miene zum bösen Spiel macht.
Ein politischer Märchenerzähler, der den Gute-Laune-Onkel seines Landes gibt. Bei einer Bilanz von deutlich mehr als sechs Millionen Corona-Infektionen und rund 200.000 Toten erfüllt dies zumindest theoretisch den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung mit massenhafter Todesfolge. Während viele Regierungen einen Lockdown für ihre Länder verhängen, predigt Trump die Ankurbelung der Wirtschaft als alleinigen Heilsweg. Maskenpflicht, Abstandsgebot? In der Lesart des Präsidenten die Propaganda der schwarzen Ritter der Prohibition.
Trumps Masche: Er sagt das Unsagbare und setzt so auf die Entskandalisierung des Skandals. Der Chef des Weißen Hauses zelebriert sich als Umwerter der bisher gültigen Werte. Dass gerade der Watergate-Aufklärer Woodward zum Kronzeugen für Trumps Offenbarungsarie wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte. Es ist ein bislang nie dagewesener Bruch in der politischen Kultur Amerikas.