Union Berlin startet an diesem Samstag um 15.30 Uhr gegen Augsburg nicht mehr mit der Rolle des krassen Außenseiters in seine zweite Bundesligasaison. Das birgt Gefahren, zumal die Vorbereitung nicht optimal verlief.
Den ersten Derby-Sieg hat Union Berlin schon vor dem Startschuss der neuen Saison in der Bundesliga eingefahren. Bei der jüngsten Wahl des Berliner Fußball-Verbands (BFV) – zusammen mit der „Fußball-Woche" – zum Fußballer des Jahres in der Hauptstadt landete ein Quartett der Eisernen ganz vorne: Kapitän Christopher Trimmel (26,7 Prozent der Stimmen), Rafal Gikiewicz (22,7), Marius Bülter (17,1) und Sebastian Andersson (10,4). Und die Profis von Hertha BSC? Dedryck Boyata (7,7), Vedad Ibisevic (6,8), Per Skjelbred (4,8) und Vladimir Darida (3,8) folgten weit abgeschlagen. Insgesamt stimmten zwei Drittel der knapp 34.000 Fans, die an der Abstimmung teilnahmen, für Spieler von Union Berlin. Das könnte an einer erfolgreichen Mobilmachung der Anhängerschaft für diese Wahl gelegen haben, aber sicher nicht nur. Am Ende lag Hertha aufgrund des leicht besseren Torverhältnisses in der Bundesliga-Tabelle zwar knapp vor dem punktgleichen Stadtrivalen, doch wirklich erfolgreich war die Saison nur für die Köpenicker gewesen. In seiner Premieren-Spielzeit hat Union nicht nur ohne größere Schwierigkeiten die Klasse gehalten, sondern selbst den Champions-League-Clubs Borussia Dortmund und Borussia Mönchengladbach das Fürchten gelehrt. Im Rausch über den Klassenerhalt hatte Trimmel seinen Fans auf Instagram geschrieben: „Das Kapitel ‚Underdog‘ dürfte somit auch abgeschlossen sein."
Zweite Saison meist die schwerste
Schon im Auftaktspiel der Saison 2020/21 geht der einstige Dauer-Außenseiter als leichter Favorit in die Partie. Im Heimspiel am 19. September gegen den FC Augsburg erwarten nicht wenige Fans einen Sieg zum Einstand. Wie die Spieler mit dem gestiegenen Druck umgehen, muss sich erst noch zeigen. Fakt ist: Kein Club dürfte Union mehr unterschätzen, schon in der Rückrunde der Vorsaison hatten sich die Teams viel besser auf den unkonventionellen Spielstil des Neulings eingestellt. „Ich glaube schon, dass es das ein oder andere Spiel gegeben hat, wo uns der Gegner mal unterschätzt hat, nicht gut genug gekannt hat", sagte Trimmel. Das werde „jetzt nicht mehr passieren", warnte der Österreicher. Aus diesem Grund wird die Binsenweisheit, dass die zweite Saison in der Bundesliga meist die schwerste sei, in diesen Tagen im Zusammenhang mit Union Berlin auch oft benutzt. Fortuna Düsseldorf, FC Ingolstadt und Darmstadt 98 – es gibt genügend Beispiele für einen Absturz im zweiten Jahr, wenn die Aufstiegseuphorie verflogen ist.
Union-Präsident Dirk Zingler will sich mit den Folgen eines möglichen Abstiegs noch nicht beschäftigen. Er sei „optimistisch wie in den vergangenen 16 Jahren" auch, betonte Zingler. Doch auch der Club-Boss hat mitbekommen, dass die Vorbereitung nicht ganz optimal verlaufen ist. Es sei nun wichtig, so Zingler, „dass die Spieler zurückkommen, die noch ein bisschen angeschlagen sind. Einige sind noch nicht in der Verfassung, die sie eigentlich bräuchten."
Damit ist vor allem der prominenteste Neuzugang gemeint. „Wo ist eigentlich Kruse", schrieb die „Bild"-Zeitung, nachdem Max Kruse auch beim letzten Testspiel gegen Zweitligist Nürnberg gefehlt hatte. Kritisch hinterfragt wurde in dem Artikel nicht sein sportliches Fehlen wegen der Folgen einer Sprunggelenksverletzung, sondern die Tatsache, dass er sich auch das siebte Testspiel seiner neuen Kollegen nicht im Stadion angeschaut hatte. Zum Ligastart gegen Augsburg wird Kruse in der Alten Försterei zumindest auf der Tribüne sitzen, denn bei Pflichtspielen gilt auch bei Union eine Anwesenheitspflicht. Auf dem Rasen wird der frühere Nationalspieler aber wohl noch nicht mitwirken können, zu groß ist sein Trainingsrückstand. Auch abseits des Platzes läuft es für den ehemaligen Bremer nicht rund: Laut Medienberichten will ihn Ex-Club Fenerbahce Istanbul auf 18 Millionen Euro Schadenersatz verklagen. Kruse hatte seinen Vertrag beim türkischen Club einseitig gekündigt, weil sein Gehalt über Monate nicht voll ausgezahlt worden war.
Im Guten sind dagegen Union und Rafal Gikiewicz im Sommer auseinandergegangen – und schon am ersten Spieltag kommt es zum Wiedersehen. Der Pole wechselte nach Augsburg, wo er den Posten von Andreas Luthe übernahm, der – genau – zu Union Berlin ging. „Es wird ein Supertag", sagte Gikiewicz voller Vorfreude auf seine Rückkehr zu Union, wo er jahrelang Publikumsliebling war. Doch mit Geschenken reist der Torwart nicht an: „Ich will mit Augsburg gewinnen." Der brisante Tor-Tausch mit Luthe ist für ihn scheinbar kein großes Thema. „Ich bin Rafal Gikiewicz, er ist Andreas Luthe, ich kenne ihn nicht persönlich." Er bekomme noch „viele Nachrichten aus Berlin" und wisse dadurch, „dass ich in den letzten 24 Monaten alles richtig gemacht habe". Das behauptet auch Luthe von sich, dessen Abgang vom FCA jedoch weniger geräuschlos über der Bühne ging. Laut Luthe wurden in Augsburg unwahre Gerüchte gestreut, er hätte sich in der Corona-Krise gegen einen Gehaltsverzicht gewehrt. „Ein guter und ambitionierter Bundesligist hat das nicht nötig", wetterte der Keeper.
Erneut 5.000 Zuschauer im Stadion
Für Spannung ist also gesorgt – und auch die Stimmung dürfte einigermaßen passen. Nach dem gelungenen Testlauf gegen Nürnberg wird erneut mit bis zu 5.000 Zuschauern im Stadion gerechnet. „Es tut einfach gut, wenn du Zuschauer im Stadion hast, und sie dich auch noch so anfeuern wie unsere Fans. Dann tut das doppelt gut", sagte Zingler. Die Unterstützung der Anhänger ist vor allem für eine Mannschaft wie Union wichtig, die von ihrer Geschlossenheit und der Energie von den Rängen lebt. Darauf, aber auch auf die Gefährlichkeit bei Standards und das kompakte Verteidigen wird es auch in dieser Spielzeit ankommen. „Ich erwarte nichts Neues", sagte Trainer Urs Fischer. „Ich glaube, unser Gesicht kennt man. Auch in dieser Spielzeit gilt es, unser Gesicht zu zeigen."
Dass sich Spieler wie Kruse, Robert Andrich, Keita Endo, Anthony Ujah und Sheraldo Becker in der Vorbereitung mit Verletzungen herumschleppten, macht den Start zwar nicht einfacher. Dennoch ist Fischer verhalten optimistisch: „Die Spieler, die neu zu uns gekommen sind, wurden gut aufgenommen. Automatismen und Spielprinzipien sieht man schon. Wir sind auf dem richtigen Weg." Und dieser Weg bedeutet nicht, die starke Vorsaison unbedingt toppen zu wollen. „Wir dürfen nicht hingehen und sagen, dass wir uns bei den Punkten oder dem Tabellenplatz verbessern wollen", warnte Kapitän Trimmel. Das große Ziel bleibe der Klassenerhalt. „Um das aber wieder zu erreichen", ergänzte der Österreicher, „müssen wir viele kleine Dinge verbessern." Vermeiden die Köpenicker erneut den Abstieg in die Zweite Liga, stehen die Chancen auch gut, in der Wahl zum Fußballer des Jahres wieder klar vor den Herthanern zu landen.