Wer im Dreiländereck wirtschaftlich erfolgreich sein möchte, sollte zwei Sprachen beherrschen. In Frankreich aber ändert sich das: Trotz Versprechungen der Politik, die Zweisprachigkeit zu fördern, ist sie auf dem Rückzug. Dies beobachtet Léon Dietsch, ehemaliger Lehrer und Vorsitzender des Vereins Kultur und Zweisprachigkeit in Lothringen, mit Sorge.
Herr Dietsch, die Zahlen klingen ernüchternd. Nicht mal sechs Prozent der Kinder in französischen Vor- und Grundschulen in ganz Frankreich lernen Deutsch, und in den weiterführenden Schulen sind es gerade mal 15 Prozent. Sieht es denn wenigstens im Département Moselle besser aus?
Im Verhältnis zu ganz Frankreich gesehen schon. Knapp 34 Prozent sind es bei den Vor- und Grundschülern und immerhin etwas mehr als 46 Prozent auf den Gymnasien. Bikulturelle öffentliche Grundschulen gibt es momentan zehn, davon aber nur eine mit zweisprachigem Unterricht.
Trotz verschiedener Initiativen und Versprechungen der Politik ist die deutsche Sprache in den Schulen auf dem Rückzug. So stirbt beispielsweise die „europäische Klasse" im Gymnasium in Forbach wegen zu wenigen Interessenten aus. In Saint-Avold sieht es kaum besser aus: Die Nachfrage fehlt. Nur in Saargemünd ist es besser. Alle bilingualen Zweige bis zum Abibac werden angeboten. Der deutsch-französische Abibac-Abschluss ermöglicht den Zugang sowohl zur deutschen als auch zur französischen Universität. Aber in diesem Frühjahr hat die französische Regierung einen Erlass verabschiedet, dass Studenten ein Fremdsprachenzertifikat über englische Sprachkenntnisse nachweisen müssen. Eigentlich ein Todesstoß für Deutsch! Viele Schüler und Studenten fragen sich doch, warum sie Deutsch lernen sollen, wenn es eh nicht gebraucht und Englisch verlangt wird.
Was den Erlass des Fremdsprachenzertifikats angeht, ist übrigens noch von einer Klage beim Verwaltungsgericht in Paris anhängig. Darüber wurde zwar noch nicht entschieden, aber allzu optimistisch bin ich nicht.
Deutsch und Französisch sind im frankofonen und germanofonen Grenzraum von Mülhausen, Straßburg über Saarbrücken, Metz und Luxemburg bis zur belgischen Grenze die wichtigsten Arbeitssprachen, oder ändert sich das?
Das versuchen wir über unseren Verein den politisch Handelnden immer wieder klarzumachen. Lothringen hat historisch betrachtet eine doppelte Kultur und zwar eine deutsch-französische. Wir setzen uns dafür ein, dass die deutsche Hochsprache wie sie in unserer Region ebenfalls verstanden wird, als Regionalsprache Anerkennung findet und nicht nur das lothringische Platt. Regionalsprachen in Frankreich sind laut offizieller Definition zum Beispiel Bretonisch, Korsisch, Katalanisch, Baskisch oder Okzitanisch. Auch das Elsass muss um den Status seiner Regionalsprache kämpfen.
Wie sieht die politische Unterstützung für das Erlernen der deutschen Sprache aus?
2019 war diesbezüglich ein sehr hoffnungsvolles Jahr. Es begann im Januar mit der Unterzeichnung des Aachener Vertrags, der den Regionen weit mehr Autonomie einräumt. Im Juli wurde in Grand Est eine Rahmenkonvention für Zweisprachigkeit verabschiedet, allerdings ohne das Département Moselle, dem die Konvention angeblich nicht ehrgeizig genug erschien. Im September wurde zusätzlich das Jahr der deutschen Sprache ausgerufen. Politisch gesehen haben wir durchaus regionale Unterstützer, aber die Desillusion folgte trotzdem.
Inwiefern?
Anfangs hatten wir nur vier Gymnasien in Moselle, zwei davon in Saargemünd, die 2018 speziell den deutschen Zweig anboten, für Englisch waren es 27. Inzwischen sind es nach einem Protestbrief an die Abgeordneten zwar acht, aber das ist immer noch zu wenig und damit ernüchternd. Außerdem brauchen wir dringend mehr Lehrkräfte, die Deutsch unterrichten können.
Und die Corona-Krise macht das alles nicht einfacher. Die Grenzschließungen und die längst überwunden geglaubten Anfeindungen auf beiden Seiten haben dem Bild des „hässlichen" Deutschen leider neue Nahrung gegeben. Deutsch kommt in gewissen sozialen Schichten einfach nicht an. Wir wollen Deutsch und Englisch nicht in Konkurrenz zueinander sehen. Die Schüler sollen ja liebend gerne auch Englisch lernen. Aber für das Verständnis des unmittelbaren Nachbarn, für das Verstehen der eigenen Kultur und für das Arbeiten mit einem unserer wichtigsten Wirtschaftspartner ist Deutsch ungemein wichtig. Englisch ist die Sprache der Technik, Französisch die der Diplomatie und Deutsch die der Kommunikation mit unserem Nachbarn.
Müsste nicht mehr Engagement aus der Wirtschaft kommen? Deutsche Unternehmen würden gerne auch französische Azubis einstellen.
Das ist ein anderes Problem. Die Lehre oder berufliche Erstausbildung wie in Deutschland gibt es in dieser Form in Frankreich nicht. Machten Ende der 60er-Jahre lediglich 20 Prozent der Schüler Abitur, sind es heute 80 Prozent. Wer das Abi nicht packt, muss in die Berufsausbildung, gilt also als nicht allzu gut in der Schule. Dieses veraltete Image in den Köpfen ändert sich nur sehr langsam. Der Begriff „apprentissage", sprich Lehre, ist bei uns negativ besetzt. Wir sprechen daher lieber von der „formation en alternance", also duale Ausbildung.
Wie können Sie der deutschen Sprache überhaupt auf die Sprünge helfen?
Wir müssen Deutsch für die Franzosen sichtbar, hörbar und liebenswert machen, allen voran bei den Jüngsten unter uns. Sie lernen die Sprache spielerisch.
Das beginnt mit ganz banalen Dingen des Alltags wie zweisprachige Ausschilderung selbst in Geschäften, deutschsprachige Sendungen und Videos im Fernsehen beziehungsweise in den neuen Medien. Wir haben 2017 und 2018 jeweils ein Kolloquium mit Politikern organisiert, um Ideen und Strategien zu diskutieren und zu entwickeln. Vorstellbar sind der kontinuierliche zweisprachige Ausbau unserer Internetseite, Kulturcafés an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Rednern, regelmäßige Newsletter an die Bürgermeister und Abgeordneten, Wechselausstellungen an Schulen …
Wir wollen die Öffnung neuer bilingualer Grundschulen fördern. Im Frühjahr nächsten Jahres planen wir, wieder ein Kolloquium zu veranstalten, sofern es die Gesundheitslage zulässt.
Den Verein gibt es seit 2008. Wie gut ist er in der Großregion vernetzt?
Wir haben durch unsere Mitglieder mehrere Verbindungen ins Saarland. Wir pflegen Kontakte zu der Vereinigung für die Förderung der Zweisprachigkeit, zum Eurodistrict, unterstützen Webinare wie „border realities". Doch unsere Mittel sind natürlich begrenzt und wir arbeiten ehrenamtlich.
Der Verein hat rund 100 Mitglieder, aber wie so oft sind es die Älteren, die sich engagieren. Mal ehrlich: Stirbt mit der deutschen Sprache auch der Verein?
So weit darf es nicht kommen. Das Deutsche in Lothringen ist Teil unserer Geschichte, auch wenn es unrühmliche Kapitel gibt. Die germanische Sprache ist in unserer Region traditionell viel stärker verankert als das Französische im Saarland. Wie in vielen Vereinen fehlt es an Nachwuchs. Daran müssen wir arbeiten. Aber es macht auch Spaß, an der Schnittstelle dieser beiden großen Nationen Deutschland und Frankreich zu wirken.
Sprache ist immer auch Ausdruck unserer Kultur und unserer gemeinsamen Geschichte.