Tanz in Zeiten von Corona? John Neumeier zählt zu den herausragenden Choreografen der Gegenwart und ist Ballettintendant an der Staatsoper in Hamburg. Wie entstand sein neues Stück „Ghost Light", das in Baden-Baden gezeigt wird und bereits ausverkauft ist?
Als infolge der Covid-19-Pandemie Mitte März die Theater schließen mussten, traf es die Tanzkompanien besonders. Körperliche Nähe und Körperkontakt gelten seitdem als Gesundheitsrisiko – doch wie ist künstlerischer Tanz anders möglich als mit Körperberührung?
Eine Woche vor dem Lockdown fand am 5. März in Saarbrücken mit dem Abend „Future World" eine der letzten Ballettpremieren an einem deutschen Staats- oder Stadttheater statt. Erst am 6. September konnte wieder eine Uraufführung eines deutschen Tanzensembles stattfinden: Das Hamburg Ballett brachte „Ghost Light" von John Neumeier heraus. Dieses Stück spiegelt unmittelbar seine Entstehungszeit wider: Die Tänzer halten Abstand zueinander, ausgenommen diejenigen Paare, die verheiratet sind oder zusammenleben.
Für jeden Choreografen ist derzeit die Einhaltung der Abstandsregel eine gewaltige Herausforderung – John Neumeier hat sie souverän gemeistert, wie man sehen kann. Herausgekommen ist nicht bloß „ein Ballett in Corona-Zeiten", wie es im Untertitel heißt, sondern vielmehr ein beglückendes Konzentrat seines choreografischen Stils. Der Titel des handlungslosen Werks für die gesamte Kompanie verweist auf die Glühbirne, die amerikanische Bühnen nach Vorstellungsende bis zum Probenbeginn am nächsten Morgen erhellt.
Herr Neumeier, die Entstehung von „Ghost Light" hängt unmittelbar mit der Corona-Pandemie zusammen. Wie kam es dazu, dass Sie sich zu dieser Choreografie entschlossen haben?
Als wir nach unserer letzten Vorstellung am 9. Februar im Teatro La Fenice in Venedig und einem kurzen Urlaub wieder in Hamburg waren, kam am 14. März der Lockdown. Bald darauf trainierte die Kompanie via Zoom zu Hause, doch habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir in kleinen Gruppen wieder im Ballettsaal trainieren dürften. Am 29. April konnten wir mit Trainings in Gruppen von sechs oder sieben Tänzern beginnen, das waren zehn Trainings am Tag. Ich habe ständig zugeschaut und fand die Ernsthaftigkeit und die Disziplin der Tänzer bemerkenswert. Normalerweise ist das Training die Vorbereitung für den Tag mit seinen Proben und vielleicht einer Aufführung, doch in dieser Zeit war das Training das „Hauptgericht" des Tages.
Dadurch wurden Sie zum neuen Ballett inspiriert?
Ja. Ich wollte der Technik, dem Training, einen Inhalt geben. Spontan habe ich mich entschieden, dafür Klaviermusik von Franz Schubert zu verwenden. Am 11. Mai fing ich mit dem Choreografieren an, nach einem feststehenden System: gleichbleibende kleine Gruppen, kürzere Proben, eine halbe Stunde durchlüften. Als sich im Frühsommer der Spielplan für die neue Spielzeit permanent veränderte, stellte sich heraus, dass wir zu Beginn ausschließlich das sich im Entstehen befindliche Ballett zeigen könnten.
Wie war es, nicht mit der gesamten Kompanie, sondern immer nur mit kleinen Einheiten arbeiten zu können?
Mich hat die besondere Intimität fasziniert, die entsteht, wenn ein Ballettmeister nur mit ganz wenigen Tänzern arbeitet. Ebenso habe ich mich intensiv mit jedem Tänzer beschäftigt, ja beschäftigen müssen. Dadurch habe ich das Ensemble anders kennengelernt, viele seiner Mitglieder gewissermaßen neu erlebt. Frustrierend war es, aufgrund der Beschränkungen – die Zahl der Personen im Ballettsaal, die Regelungen für Ein- und Ausgänge – keine größeren Abschnitte sehen zu können. Erst als wir nach der Sommerpause auf die Bühne zurückkehrten, konnte ich die einzelnen Teile des Mosaiks zusammensetzen.
Sie sind nun mehr als 50 Jahre als Ballettdirektor tätig, seit 1973 sind Sie in Hamburg. Was war in Ihrer langen Laufbahn das Wichtigste?
Dass ich immer eine Entwicklung spürte. 1969 war das der Wechsel vom Tänzer zum Ballettdirektor; in Hamburg waren das etwa 1978 die Gründung der Ballettschule, 1989 die Eröffnung des Ballettzentrums, die Entwicklung bestimmter Tänzer, 2011 der Start des Bundesjugendballetts – und natürlich meine eigene Entwicklung. Die Tatsache, dass ich, wenn ich an das nächste Stück denke, bis jetzt nicht das Gefühl habe zu wissen, wie es geht.
Sie wissen doch sehr wohl, wie man Ballette, noch dazu erfolgreiche, macht?
Nein, ich weiß es wirklich nicht. Ich versuche es jedes Mal von Neuem. Ich möchte einmal ein sehr gutes Ballett auf die Bühne bringen. Mir ist es immer wichtig gewesen, Appetit zu haben, nach dem Motto: Das war nicht schlecht, doch was mache ich jetzt?