Als Vierter in der Liga kam der FC Chelsea in der Vorsaison zumindest in die Champions League – allerdings mit 33 Punkten Rückstand auf Meister Liverpool. Auch in der Königsklasse waren sie gegen die Bayern chancenlos. Um den hohen Zielen näherzukommen, holten die Blues die deutschen Offensivspieler Timo Werner und Kai Havertz.
Vielleicht schauen sie beim FC Bayern letztlich doch ein bisschen neidisch auf den FC Chelsea. An Hakim Ziyech (27) hatten die Münchner im vergangenen Sommer verbrieftes Interesse. Doch der Marokkaner blieb zunächst bei Ajax Amsterdam, weil er nicht das „vollkommen gute Gefühl" gehabt habe. Mit Timo Werner (24) beschäftigten sich die Münchner ebenfalls intensiv, ehe sie beschlossen, von dem damals 25 Millionen Euro teuren Transfer Abstand zu nehmen. Was mancher bereute, doch Werner stellte dann während der letzten Saison schnell klar, dass ihn „eher der Schritt ins Ausland als ein Wechsel zu Bayern" reizen würde. Und auch Kai Havertz (21) hätte letzten Sommer zum FC Bayern kommen sollen und wollte offenbar auch. Doch damals berappten die Münchner nicht die von Bayer Leverkusen geforderten 100 Millionen Euro. Und in diesem, dem Corona-Sommer, dann erst recht nicht.
Alle drei Offensivkräfte hätten die Münchner sicher verstärkt. Auch in diesem Sommer noch, in dem Trainer Hansi Flick durchaus deutlich noch die eine oder andere Verstärkung forderte. Doch alle drei wechselten nun zum FC Chelsea, was zwei Dinge beweist: Zum einen haben die Blues riesige Ziele. Zum andern sind die Londoner auch in Corona-Zeiten durchaus noch flüssig. Denn nach dem schon 40 Millionen Euro teuren Transfer von Ziyech, machten sie zunächst Timo Werner mit einer Ablöse von 53 Millionen Euro zum teuersten deutschen Spieler. Und danach Havertz, für den sie letztlich zumindest mit Zuschlägen die rund 100 Millionen Euro hinlegten. Vom Gehalt für das Trio ganz zu schweigen. Laut „Bild"-Zeitung soll Werner zum Beispiel inklusive des Handgelds beim Wechsel für seine fünf Jahre bei Chelsea 88,5 Millionen Euro erhalten.
Die Blues haben riesige Ziele
Da Werner und Havertz an der Stamford Bridge auch noch auf Abwehrspieler Antonio Rüdiger treffen, sind nun gleich drei deutsche Nationalspieler für die Blues tätig. Und Lothar Matthäus fühlte sich sofort an die Zeit des WM-Titels vor 30 Jahren erinnert. Er sehe bei dem neuen „Chelsea-Block" durchaus „Parallelen zu 1990", sagte der Rekordnationalspieler. Damals spielten Kapitän Matthäus, Final-Torschütze Andreas Brehme und Torjäger Jürgen Klinsmann zusammen bei Inter Mailand. Angeführt von diesem „Inter-Block" holte die Nationalmannschaft in deren italienischer Wahlheimat den Titel. „Wir waren damals erfahrener, die drei Spieler haben vielleicht noch nicht diese ausgeprägten Führungsqualitäten", schränkte Matthäus bei der „Bild" ein. Er traue dem Trio aber zumindest das zu, was Brehme, Klinsmann und er im ersten gemeinsamen Jahr bei Inter schafften: den nationalen Meistertitel.
Dieser ist natürlich das Mindeste, was Chelsea sich zumindest auf Sicht von seiner Großinvestition erwartet. Und das wissen auch die neuen Spieler. „Ich will Teil einer neuen Ära sein. Ich bin hierhergekommen, um Titel zu gewinnen", sagte Werner bei seiner Vorstellung. „Chelsea ist ein großer Club und will immer gewinnen. In den letzten Jahren haben sie nicht so viele Titel geholt, aber jetzt haben wir eine sehr starke Mannschaft mit vielen jungen, hungrigen Spielern, die sich zusammen entwickeln können. Das sind gute Voraussetzungen."
In der Tat scheint die Mannschaft gut zusammengestellt. Einige weitere Spieler kennt man auch in Deutschland. So den dänischen Abwehrspieler Andreas Christensen (24), der einst an Borussia Mönchengladbach ausgeliehen war und in den beiden Jahren zwischen 2015 und 2017 bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Den einst in Augsburg und Schalke spielenden Abdul Rahman Baba (26), für den Chelsea aber wenig Verwendung hat. Den früheren Dortmunder Christian Pulisic (21), der mit den drei Neuen zusammen in der Offensive wirbeln soll. Und das englische Talent Callum Hudson-Odoi (19), um den im letzten Jahr auch die Bayern vergeblich warben. Dazu kommen Abwehr-Routiniers wie der gerade aus Paris geholte Brasilianer Thiago Silva (36) und der Spanier César Azpilicueta (31), der französische Weltmeister und Spielgestalter N’Golo Kanté (29) sowie dessen Landsmann Olivier Giroud (33) im Sturm. Bei transfermarkt.de wird dem Kader ein Wert von 930 Millionen Euro zugerechnet und damit mehr als dem des Champions-League-Siegers aus München (884), was zum Teil aber auch daran liegt, dass der Bayern-Kader kleiner ist.
Doch im vergangenen Jahr spielten die Blues, die seit dem „Finale dahoam" 2012 für jeden Bayern-Fan ein Trauma sind, noch längst nicht wieder auf Augenhöhe mit den Münchnern. Im Achtelfinale der Champions League trafen beide aufeinander. Die Bayern gewannen in London mit 3:0 und daheim mit 4:1. „Das war eine brutale Lektion. Ein Realitätscheck", befand Trainer Frank Lampard Ende Februar nach der höchsten Europacup-Heimniederlage. „Die Bayern haben uns in so ziemlich allen Bereichen deklassiert. Das war ganz schön ernüchternd." Wahrscheinlich ist in dieser Nacht bei Mäzen Roman Abramowitsch die Erkenntnis gewachsen, im Transfer-Sommer Nägel mit Köpfen machen zu müssen, wenn Chelsea wieder zu alter Stärke finden will.
„Ich bin gekommen, um Titel zu gewinnen"
Lampard war übrigens beim größten Vereinserfolg 2012 im Champions-League-Finale in München gegen die Bayern dabei und genießt nach 13 Jahren als Fighter bei den Blues-Fans Kultstatus. Auch für Havertz und Werner war er ein großer Faktor bei ihrer Entscheidung für Chelsea. „Natürlich spielte er eine große Rolle, weil ich ihn als Spieler geliebt und oft gesehen habe. Ich denke, ich kann von ihm viel lernen", sagte Havertz. Und Werner betonte sogar: „Er war der Hauptgrund für meinen Wechsel."
Mit dem 42 Jahre alten Lampard, der zuvor nur ein Jahr Trainererfahrung beim Zweitligisten Derby County vorweisen konnte, sind sie bei Chelsea auch sehr zufrieden. Trotz des klaren Scheiterns in der Champions League und den 33 Punkten Rückstand in der Liga auf Meister Liverpool. Denn als er im vergangenen Sommer kam, hatte der Verein gerade mit Eden Hazard (zu Real Madrid) sein Herzstück verloren und durfte wegen einer Transfersperre im Gegenzug keine neuen Spieler verpflichten. Deshalb gilt der Einzug in die Champions League vorrangig als Erfolg, zumal Chelsea teilweise herzerfrischenden Fußball bot und Lampard auch schon zeigte, dass er junge Talente entwickeln kann.
In diesem Sommer ist er mit seinen Transfers zufrieden. Mit Thiago Silva, dem auch in der Bundesliga begehrten Malang Sarr (Nizza) und dem 50 Millionen teuren Ben Chilwell (Leicester) kamen auch drei Defensivspieler. Doch besonders freut sich der Coach offenbar auf seine beiden neuen Deutschen. Sie würden „große Spieler für diesen Verein" werden, sagte er. Und auch die sonst wenig zimperliche britische Presse ist den beiden neuen Stars aus Germany gegenüber positiv eingestellt. Der „Guardian" lobte Werner nach dessen erstem Spiel, einem 1:0 bei Brighton and Hove Albion, als „Herumtreiber", weil er so außergewöhnlich viel lief. Der „Daily Telegraph" jubelte: „Turbo Timo hat sofort eingeschlagen." Und auch Havertz wurde gelobt, obwohl er beim Auftakt entkräftet wirkte, weil er im Gegensatz zu Werner bei seinem Ex-Verein noch bis zur Europacup-Finalrunde blieb. Dennoch habe er „gelegentliche Anflüge von Klasse" offenbart, stellte die BBC fest. Grundsätzlich feiern sie ihn auf der Insel als „neuen Ballack". Vergleiche mit dem früheren „Capitano" gab es wegen ähnlicher Statur und Spielweise sowieso schon immer. Und auch Ballack spielte nicht nur in Leverkusen, sondern eben auch von 2006 bis 2010 bei den Blues, mit denen er sechs Titel gewann.
„Ich denke, ich kann viel von ihm lernen"
Gewöhnen müssen sich die beiden noch an die englische Härte. „Gegen solche Abwehrkanten habe ich noch nie gespielt. Sie sind so groß und schwer und massiv. So etwas gibt es in Deutschland nicht", klagte Werner nach dem ersten Spiel. Und auch Havertz stellte direkt fest: „Die Premier League ist viel härter als die Bundesliga. Das habe ich schon im Training gespürt."
Es wird also schon auch eine harte Schule werden für die beiden. Dennoch könnte ihre auf den ersten Blick für viele unerwartete Club-Wahl am Ende die richtige sein, wenn sie sich einen Traum erfüllen. Denn beide haben als Profi noch keinen Titel mit ihren Vereinen gewonnen.