Der Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS) fordert ein neues Verkehrsrecht mit stärkerem Fokus auf Fußgänger. Sein Sprecher Roland Stimpel erklärt, was sich ändern muss, damit die schwächsten Verkehrsteilnehmer künftig besser geschützt sind, und warum Radler manchmal genauso schlimm sind wie Autofahrer.
Herr Stimpel, was genau stört Sie an der aktuellen Straßenverkehrsordnung?
Die Straßenverkehrsordnung stammt im Wesentlichen aus den 30er-Jahren. Seitdem wurde sie zwar in vielen Einzelheiten verändert, aber das Grundprinzip ist immer noch das gleiche: Ihr Hauptzweck ist es, Kraftfahrzeuge so gut und schnell wie möglich fahren zu lassen. Fußgänger sind da nur störende Randfiguren. Sie stellen zwar in Städten die größte Verkehrsteilnehmergruppe, aber durch die StVO werden sie benachteiligt und degradiert.
Was fordern Sie stattdessen? Inwieweit sollte eine neue StVO anders aussehen?
Grundprinzip einer Straßenverkehrsordnung sollte es aus unserer Sicht sein, dass diejenigen Verkehrsteilnehmer bevorzugt werden, die in den Städten in der Mehrzahl sind, die am leistungsfähigsten sind, weil zu Fuß am meisten Menschen schmale Wege nutzen und Engstellen passieren können, die zudem umweltschonend und kostensparend sind. Sie sollten ausreichend breite Wege bekommen, auf denen nicht geparkt oder gefahren werden darf und wo auch keine Gastronomiebetriebe, Ladesäulen oder Parkautomaten stehen – oder nur so, dass daneben noch genügend Platz bleibt. Wo sich die Wege von Fußgängern und anderen Verkehrsteilnehmern kreuzen, sollten diese öfter Vorrang bekommen. Wichtig sind auch mehr Zebrastreifen sowie schmalere Fahrbahnen, die leichter zu überqueren sind, oder auch Mittelinseln. Wir wollen außerdem, dass Tempo 30 die Regel und nicht mehr die Ausnahme in geschlossenen Ortschaften wird. Dadurch würde das Unfallrisiko für Fußgänger und auch Radfahrer deutlich gesenkt.
FUSS will höhere Strafen bei Verstößen und dass das, was verboten ist, auch konsequent verfolgt wird. Wie wird das denn aktuell gehandhabt?
Wir waren eigentlich auf einem guten Weg, als der Bundesrat im Februar die Novelle der Straßenverkehrsordnung beschlossen hat, die auch den Bußgeldkatalog betraf. Für das unerlaubte Parken auf und dem Befahren von Gehwegen sollten künftig 55 Euro fällig werden. Leider wurde die Reform aufgrund eines Formfehlers wieder für ungültig erklärt. Ein Vorbild für uns ist Frankreich, wo man für Parken und Fahren auf dem Gehweg 135 Euro blechen muss. Das ist der Grund, weshalb man zum Beispiel in Paris trotz des dichten Verkehrs auf dem Trottoir ungestört flanieren kann.
Würden die härteren Strafen auch für die Fußgänger selbst gelten, wenn sie beispielsweise bei Rot über die Straße gehen oder beim Laufen permanent aufs Handy starren und dadurch womöglich mit anderen Verkehrsteilnehmern kollidieren? Wollen Sie das auch ahnden?
Alle Bußen und Strafen sollten nach der tatsächlichen oder potenziellen Schädlichkeit des Verhaltens eingestuft werden. Ich mag diese Leute, die ständig nur auf ihr Smartphone starren, auch nicht. Das ist lästig, hat aber noch niemandem geschadet, sodass man es vorrangig verfolgen müsste. Und was die Ampeln angeht: Es ist nicht schön, dass es Fußgänger gibt, die zu Schaden kommen, weil sie bei Rot über die Straße gehen. Dafür kassiert die Polizei auch zu Recht. Aber ich muss darauf hinweisen, dass doppelt so viele Fußgänger an Ampeln bei Grün zu Schaden kommen wie bei Rot, weil sie oft von Abbiegern angefahren werden. Das ist viel gefährlicher.
Sie haben Frankreich als Vorbild genannt. Gibt es auch in Deutschland positive Beispiele?
Da wäre zum Beispiel Leipzig zu nennen, das als erste deutsche Stadt in der Verwaltung einen eigenen Beauftragten für den Fußverkehr bekommen hat, der bei allen Bauvorhaben beteiligt ist und diese konsequent aus Sicht der Fußgänger beurteilt.
Ein großes Problem in jüngster Zeit sind Elektroroller, die oft auf Gehwegen gefahren und geparkt werden. Hat das letztlich das Fass zum Überlaufen gebracht?
Das Beispiel zeigt doch, wie pervers die aktuelle Praxis ist. Man stelle sich vor, ich würde meinen Schuhschrank quer auf die Fahrbahn stellen, weil er für die Wohnung zu groß ist. Es würde keine fünf Minuten dauern, ehe die Polizei da wäre und ich ein Strafverfahren wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr an der Backe hätte. Auf dem Gehweg darf dagegen jeder abstellen, was er will. Dabei ist das gerade für ältere und für blinde Menschen gefährlich.
Im Zuge der Corona-Pandemie sind zwei Dinge passiert: Zum einen dürfen Gastronomen nun vermehrt Gehwege nutzen, um Tische aufzustellen; zum anderen fahren immer mehr Menschen Fahrrad und viele auch auf dem Gehweg. Was bedeutet das beides für den Fußverkehr?
In Berliner Einzelfällen war man mutig und hat Parkspuren gesperrt, damit die Gastronomen dort ihre Tische aufstellen können. In München an einigen Stellen ebenfalls – ansonsten aber folgt man vielerorts dem alten Reflex und hat den Raum natürlich den Fußgängern weggenommen. Die Fahrbahn ist in Deutschland heilig. In Berlin-Mitte stehen die Tische inzwischen auch dort, wo sie eigentlich ausdrücklich nicht erlaubt sind. Die Kneipiers rauben Fußwege unter Berufung auf Corona, und Ordnungsämter schauen zu. Denen scheint ihre größte Verkehrsteilnehmergruppe absolut egal zu sein.
Für Radfahrer wird mittlerweile viel getan. Zu viel aus Ihrer Sicht? Wird der Fußverkehr vernachlässigt?
Der gestiegene Fahrradverkehr ist insofern zu begrüßen, als dass er platzsparend, leise, langsam, relativ ungefährlich und umweltschonend ist. Die Schattenseite besteht darin, dass man mit diesen Fahrzeugen auch Räume besetzen und verderben kann, in die Autos gar nicht kamen: Gehwege zum Beispiel. Und genau das ist leider auch passiert. Aus ökologischer Sicht ist der Fahrradtrend sehr gut, sozial ist er eine Katastrophe, wenn er alten Leuten, Kindern und Menschen mit Behinderung ihren letzten sicheren Freiraum nimmt. Dem muss man mit Bußgeldern und entsprechenden Kontrollen entgegentreten. Wir wollen nicht zu viel Bürokratie und fordern deshalb aktuell keinen Fahrradführerschein oder eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder. Aber wenn das so weitergeht, wird man darüber noch einmal nachdenken müssen.
Sehen Sie unter dem aktuellen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der das Amt eher traditionell führt, eine Chance, ihre Forderungen umzusetzen?
Mit Scheuer ist da nichts zu machen. Der Etat des Bundesverkehrsministeriums beläuft sich auf 30 Milliarden Euro im Jahr. Davon wurden gerade einmal 800.000 Euro – also ein Cent pro Jahr und Bundesbürger – für eine Kampagne eingesetzt, die bei Autofahrern für mehr Rücksicht gegenüber Senioren warb, die also auch nur indirekt dem Fußverkehr zugutekam.