Vor 30 Jahren sorgte die deutsche Wiedervereinigung auch in der Kulturlandschaft für Umwälzungen und tiefgreifende Veränderungen. Vor allem die Theater bekamen das zu spüren. Beispiele aus Ost und West.
In Deutschland gab es 1990 rund 220 Stadttheater – darunter zahlreiche Mehrspartenhäuser. Viele dieser Häuser haben sich unter den veränderten finanziellen und gesellschaftlichen Bedingungen neu aufstellen müssen.
Die Straße als Bühne
4. November 1989. Eine Million Menschen demonstriert auf und um den Alexanderplatz für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Unter den Organisatoren: Prominente Künstler der Ost-Berliner Theater – Jan Josef Liefers, Ulrich Mühe, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein. Sie alle hielten Reden, die Schauspielhäuser standen leer, das Personal war auf der Straße. Und nicht nur in Berlin, sondern auch in Dresden, Plauen, Weimar erwiesen sich die Theater als Sammelpunkte und Debattierclubs für die Bürger.
Westdeutsche Theater lagen dagegen im Dornröschenschlaf. Ganz selten war es mal zu einem Ausbruch von Bürgerbeteiligung gekommen wie bei Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod" (1985). Proteste gegen Stücke mit den damals beliebten Nacktszenen entluden sich im Türeschlagen empörter Besucher. Handkes „Publikumsbeschimpfung" rief ein paar Tumulte hervor, die verpufften schnell. Es dauerte noch mehrere Jahre, bis die westdeutsche Theaterszene die ostdeutsche Realität zum Gegenstand machte: „Wessis in Weimar" von Rolf Hochhuth kam 1993 heraus, im gleichen Jahr wetterte Franz Xaver Kroetz („Ich bin das Volk") gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit.
Gemeinsam ist Ost und West, dass die meisten Bühnen in der Tradition der Stadttheater stehen, die sich im zersplitterten Deutschland des 18. Jahrhunderts aus dem Bürgerwillen und dem Mäzenatentum vieler Fürsten und Kleinfürsten heraus entwickelt haben. Sie haben alles überlebt, Kriege, Nazizeit und die DDR. August Everding bezifferte ihre Zahl 1990 mit 69 im Osten und 150 Theatern im Westen. Neuere Zahlen kommen auf 140 Bühnen, dazu 220 Privattheater und mehr als 70 Festspiele. Das bedeutet, dass nicht wenige schließen mussten, umgewidmet wurden in Kinoburgen oder nur noch von durchreisenden Ensembles bespielt werden. Prominente Beispiele sind das Theater in Zwickau oder das Kleist-Theater in Frankfurt/Oder. Obwohl der Bund half: 900 Millionen DM jährlich steckte er ab 1991 in die Theaterszene Ost, damit sie nicht pleiteging. Im Westen, wo die Theater auch nicht ohne Subventionen auskamen, wurden sie, wo immer möglich, erhalten: In Gütersloh sorgten die ansässigen Unternehmen Miele und Bertelsmann für Großspenden, in Aschaffenburg durfte das ehemals fürstliche Gebäude aus Denkmalschutzgründen nicht fallen. In Bonn musste das heruntergekommene Schauspielhaus aus Prestigegründen teuer renoviert werden. Fragt man nach den meistgespielten Stücken, stehen immer noch (oder wieder) die Namen Shakespeare, Brecht, Goethe, Schiller und Kleist ganz vorne – in Ost und West.
Allen Schließungsplänen zum Trotz
In der DDR gehörte das Volkstheater Rostock zu den profiliertesten Bühnen. Und auch heute sorgt das Vierspartenhaus mit Tanz, Musik, Theater und Konzerten mit seinen Inszenierungen für Gesprächsstoff in der Region – setzt auf ein Angebot zwischen Klassik und Zeitgenössischem. 2011 beispielsweise sahen weltweit mehr als 300.000 Zuschauer die Internet-Aufführung von Theodor Fontanes „Effi Briest". Damit sollte eigentlich auf die Schließung der zentralen Spielstätte, dem Großen Haus, aufmerksam gemacht werden.
Denn wie viele andere Bühnen in der Nachwendezeit kämpfte das Theater immer wieder um seine Existenz. Von den einst 700 Mitarbeitenden sind heute gerade mal rund 250 übrig. 2001 verhinderten ein engagierter Theaterverein und an die 100.000 Unterschriften der Rostocker die Schließung. 2016 standen der Tanz und das Schauspiel vor dem Aus, das Volkstheater Rostock sollte ein reines Opernhaus werden. Mit einem neuen Konzept und Reduzierungen beim Personal konnten aber alle Sparten erhalten werden. Bereits Anfang der 90er-Jahre mussten einige der über die Stadt verteilten Spielstätten schließen, das 1998 eröffnete „Theater im Stadthafen" machte Ende 2013 wieder zu.
Das „Große Haus" ist in die Jahre gekommen – die letzte Modernisierung fand in den 70er-Jahren statt. Lange drohten Pläne für einen Theaterneubau an der Finanzlage der Stadt zu scheitern, nun aber steht es fest: Das Volkstheater Rostock bekommt eine neue Heimstatt.
Dann kam Corona, auch in Rostock fiel erst mal der Vorhang. Doch im August ging es wieder los, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Derzeit kann nur ein Fünftel der Plätze belegt werden, der „Volkstheatersommer in der alten Schiffbauhalle 207" musste etwas abgespeckt werden. Aber das Publikum strömt wieder ins Theater, viele Vorstellungen sind ausverkauft. Dank eines neuen Hygienekonzeptes kann die Norddeutsche Philharmonie Rostock wieder in gewohnter Besetzung musizieren. Daraus entstand ein Pilotprojekt, das jetzt auch auf andere Orchester angewandt werden soll. Die neue Spielzeit 2020/21 im Großen Haus wurde am 26. September offiziell mit Benjamin Brittens Kammeroper „Die Schändung der Lukrezia" erfolgreich eröffnet.
Vom Traditionshaus zur Ausweichspielstätte
Das Gebäude ist ein echter Hingucker. Helle Fassade, ein auf Höhe des ersten Geschosses vorspringendes Halbrund, das wie ein gewölbter Wintergarten in den Vorplatz hineinzuragen scheint. Gerade in den Abendstunden, wenn Licht durch die Glasverkleidung nach außen fällt, scheint das Schiller-Theater im Berliner Stadtteil Charlottenburg in die Dunkelheit hineinzuleuchten. Seine künstlerische Strahlkraft hat das 1950/51 nach Plänen von Heinz Völker und Rolf Grosse am Platz des vorherigen Theaters erbaute Haus allerdings schon seit Langem verloren.
1993 war das Theater mit seinen 1.067 Plätzen, die Hauptspielstätte der Staatlichen Schauspielbühnen, auf Beschluss des Berliner Senats wegen der finanziellen Notlage der Stadt geschlossen worden. Weder Proteste der Mitarbeiter noch des Stammpublikums halfen, die einst renommierteste Bühne West-Berlins zu retten. Denn der künstlerische Niedergang einhergehend mit stetig sinkender Auslastung hatte sich schon lange angekündigt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Boleslaw Barlog die Leitung des Schlosspark-Theaters in Berlin-Steglitz übernommen, wenige Jahre später die des damals neu aufgebauten Schillertheaters. Barlog baute ein Schauspielensemble auf, das mit Namen wie Bertha Drews, Bernhard Minetti und Curt Bois auftrumpfen konnte. 1972 folgte Hans Lietzau als Intendant, er bekam die Umbrüche in Berlins Theaterlandschaft zu spüren, die Peter Stein mit seiner Schaubühne, mit neuem politischen Theater ordentlich durcheinanderwirbelte. Von da an wurde es für das Schiller-Theater mit seiner Werkstatt (der kleineren Bühne) und dem Schlosspark-Theater immer schwieriger, sein Publikum bei der Stange zu halten. Weder Boy Gobert noch Heribert Sasse konnten als Intendanten das Steuer herumreißen – und der Mauerfall bot nun die Möglichkeit, die Theater im Osten Berlins zu entdecken. Diesem Verdrängungswettbewerb hatte das hochsubventionierte Theater in Charlottenburg, zu der Zeit unter Leitung einer „Viererbande", kaum mehr etwas entgegenzusetzen. In einer nächtlichen Senatsrunde wurde das Aus des traditionsreichen Hauses beschlossen.
Seitdem hat es unterschiedliche Nutzungen erfahren – als Veranstaltungsort für Gastspiele großer Tanzkompagnien, als Übergangsspielstätte für die Staatsoper Unter den Linden, die sieben Jahre lang aufwendig saniert wurde. Zurzeit wird das Haus von den Boulevard-Bühnen am Kurfürstendamm bespielt. Die sollen im kommenden Jahr an ihren angestammten Platz zurückkehren, in den Keller eines gerade entstehenden Neubaus. Was dann aus dem ehemaligen Schillertheater wird, ist noch völlig offen.
Das Sprungbrett an der Oder
Schauspielerin Katrin Sass hatte in den 80ern ihr erstes Engagement am Kleisttheater in Frankfurt (Oder). Kollegin Johanna Schall feierte erste Bühnenerfolge hier. Matthias Schweighöfer turnte als kleiner Junge mit seiner Mutter Gitta über die Bühne. Immer wieder war das Theater im äußersten Osten der Republik Sprungbrett für große Karrieren. Doch heute steht das denkmalgeschützte Backsteingebäude leer und verfällt. Das Kleisttheater, das 1952 den Namen des in Frankfurt (Oder) geborenen Dichters Heinrich von Kleist erhielt und dessen Vorgängerbau aus dem Jahr 1842 im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, gibt es nicht mehr.
Am 22. April 2000 verabschiedete sich das Schauspielensemble mit einer Aufführung der „Rocky Horror Show" von seinem Publikum. Das Stadttheater an der Oder hatte nach der politischen Wende zu kämpfen, so wie die meisten staatlich subventionierten Dreispartenhäuser der ehemaligen DDR. Es war klar, dass sie abspecken, umstrukturieren mussten. Zunächst wurde das Ballett ersatzlos gestrichen, dann das Philharmonische Orchester ausgegliedert. Schließlich war auch das Musiktheater nicht mehr zu halten. Überdies gingen die Zuschauerzahlen zurück. Denn Frankfurt verlor in kurzer Zeit durch Abwanderung ein Drittel seiner Bevölkerung. Aber die komplette Schließung eines Theaters im Osten – das war ein Novum und ein fatales Signal. In der Stadtverordnetenversammlung begann ein Tauziehen um die knappen Mittel der Stadt. Die wiederum hoffte auf Millionenzuwendungen vom Land. Doch das stellte Bedingungen. Einen Hoffnungsschimmer gab es durch die Aussicht auf einen Neubau, finanziert aus Mitteln der EU und des Landes Brandenburg. Frankfurt griff zu, nach dem Motto – wenn erst mal ein neues Haus steht, findet sich auch eine Lösung für die Neugründung eines Theaterensembles. Diese Rechnung ging aber nicht auf. Was für ein Paradoxon: das Kleist Forum ist ein modern ausgestattetes Multifunktionsgebäude, das einen Teil seines Spielplanangebots aus einem Theater- und Konzertverbund bezieht – dabei tauschen mehrere Theater des Landes Inszenierungen aus. Dieses Angebot wird vor allem von einem auch bereits dem früheren Theater treuen Stammpublikum genutzt. Zudem konnten regionale Kulturevents wie die Kleistfesttage oder das deutsch-polnische Weltmusikfestival Transvocale erfolgreich etabliert werden. Und moderne Formate wie Poetry Slams versuchen, ein jüngeres Publikum für das Haus zu interessieren. Dennoch fremdeln viele Frankfurter nach wie vor mit dem etwas überdimensioniert wirkenden Haus. Wer sich wirklich für Theater interessiert, steigt stattdessen in den Zug – in einer Stunde ist man schließlich in Berlin.