Präsident per Gerichtsbeschluss: Die US-Wahl könnte in diesem Jahr, wie bereits im Jahr 2000, mithilfe des Supreme Courts entschieden werden. Verfassungsrechts-Experte Prof. Franz Mayer jedoch glaubt, das Oberste Gericht könnte ein drohendes Wahlchaos befrieden.
Herr Prof. Mayer, werden die US-Parteien in diesem Jahr die Gerichte bemühen, um zu bestimmen, wer 2021 den Präsidenten stellt?
Ich gehe davon aus, dass die Partei, die verliert, die Gerichte einschalten wird. Man wird alle zur Verfügung stehenden Mittel ausnutzen. Das liegt in der Logik dieses Ringens um die Macht. Es gibt aber immer noch eine kleine Möglichkeit, dass die Wahlergebnisse schon am 3. November so deutlich sein werden – entscheidend könnte etwa ein Sieg der Demokraten in Texas sein –, dass rechtliche Scharmützel direkt aufgegeben werden.
Grundlage des US-Politsystems ist die 233 Jahre alte Verfassung. Kann sie den Herausforderungen von heute noch gerecht werden?
Die Verfassung ist alt, 1789 in Kraft getreten, als sich auch in Europa, in Frankreich Dinge in Richtung Demokratie in Bewegung gesetzt haben. Nun hat Frankreich seither fünf Republiken, zwei Kaiserreiche, erneute Monarchien und mehr als 20 Verfassungstexte erlebt. Die amerikanische dagegen hat eine ungeheure Resilienz bewiesen. Es spricht also einiges dafür, dass sie auch in Zukunft den Herausforderungen gerecht werden kann. Ein Erfolgsgeheimnis könnte sein: Sie ist sehr knapp gehalten – nur sieben Artikel, mit 27 Verfassungszusätzen. Das deutsche Grundgesetz hat mehr als 146 Artikel und hat in knapp 70 Jahren über 50 Änderungen erfahren. Die US-Verfassung zu ändern, ist außerdem sehr schwer. Verfassungswandel durch ständige Verfassungsänderung ist daher keine Option. Es gibt dazu die Theorie der „Verfassungsmomente“ von Bruce Ackerman, einem Yale-Professor, wonach besondere Momente die US-Verfassung neu ausrichten: die Gründung der USA, der Bürgerkrieg, der „New Deal“ Theodore Roosevelts, die Aufhebung der Rassentrennung in den 60er-Jahren. Das Verständnis des Urtextes richtet sich also nach besonderen historischen Ereignissen neu aus, was sich in Verfassungszusätzen niederschlagen kann, aber nicht muss. Beispiele für Verfassungswandel bei unverändertem Verfassungstext finden sich an etlichen Stellen in der Rechtsprechung des US-Supreme Court.
Erleben wir gerade einen solchen Verfassungsmoment?
Das weiß man erst hinterher, mit zeitlichem Abstand. Das ist auch die Schwäche dieser Theorie. Konkret wird die „concession“ entscheidend sein, also die Anerkennung des Wahlsieges durch den Verlierer. Ein Ritual, das 1896 mit einem Glückwunschtelegramm des unterlegenen Kandidaten an den Sieger William McKinley begann. Bei Bush gegen Gore im Jahr 2000 nahm Al Gore seine bereits ausgesprochene Wahlanerkennung wieder zurück. Danach ging es vor Gericht, bis der Supreme Court kurz vor der Zusammenkunft der Wahlmänner die Stimmenneuauszählung verbot und damit die Wahl letztlich entschied – zugunsten von George W. Bush. Daraufhin sandte Gore eine zweite „concession“, er sicherte damit die gewaltfreie Übergabe von Macht, eine zentrale Errungenschaft der Demokratie. Das wird dieses Mal bei einer Wahlniederlage Trumps erst einmal nicht geschehen, wenn wir Trumps Aussagen Glauben schenken. Aber auch die Demokraten werden wohl nicht mehr so ohne Weiteres dazu bereit sein, eine Niederlage per „concession“ anzuerkennen.
Wenn man US-Wahlrechtsexperten wie Lawrence Douglas Glauben schenkt, scheint es eine Menge Lücken in der Verfassung zu geben, die Trump zuvor ausnutzen kann. Welche?
Der Ausgangspunkt ist das Electoral College, das Wahlmänner-System, das genau besehen den Präsidenten wählt. Es ist also gar keine Direktwahl durch die Wähler. Das stammt aus der Zeit, in der man als Gesandter seines Bundestaates noch mehrere Wochen lang bis nach Washington reiten musste. Es ist aber nicht nur Folklore, sondern immer noch ein Sicherungselement des Förderalismus, das den US-Bundesstaaten erhebliches Gewicht verleiht. Eine Mehrheit im Electoral College erfordert nicht zwangsläufig die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der Bürger – hier spricht man vom „popular vote“ –, das haben wir bei Hillary Clinton 2016 gesehen. Wie aber kommen heute die Wahlleute zu ihrem Mandat? Das bestimmen die Parlamente der Einzelstaaten, und die haben alle eine Wahl durch die Bürger – im jeweiligen state – eingeführt. Hier ergibt sich das Problem: Wenn nun die Stimmabgabe im Einzelstaat Fehler aufweist und ein unauflösbares Chaos droht oder behauptet wird, könnte ein einzelstaatliches Parlament die Entscheidung über die Zusammensetzung der Wahlmänner wieder an sich ziehen. Im Fall Bush gegen Gore kam es fast dazu, dass konkurrierende Personengruppen an Wahlmännern nach Washington unterwegs waren. Für Trump ist dies interessant, wenn das State-Parlament republikanisch dominiert ist und zu seinen Gunsten intervenieren kann. Ein weiterer möglicher Stolperstein ist die Briefwahl, da eine Rekordbeteiligung absehbar ist, es Dutzende verschiedene Systeme der Briefwahl gibt und nicht einmal die Wahlunterlagen überall gleich aussehen oder ausgezählt werden. Bis 14. Dezember muss das Electoral College laut Verfassung die Stimmen abgeben, am 6. Januar werden diese formal durch Senat und Repräsentantenhaus ausgezählt. Wenn hier Verfahrenseinwände erhoben werden, entscheidet der Senatsvorsitzende – das ist aber Vizepräsident Mike Pence, der ja wiedergewählt werden möchte. Eins ist sicher: Am 20. Januar, 12 Uhr, endet Trumps Mandat.
Von 3. November bis 20. Januar kann aber noch einiges passieren.
Es gibt für Trump keine Möglichkeit, seine Macht bei einer Niederlage über den 20. Januar hinaus auszudehnen. Eine lange Zeit, sicher, und es wird eine Zeit der Unsicherheit sein. Es steht zu befürchten, dass er in dieser Zeit viel Chaos und Verwirrung stiften wird, um die Wahl zu diskreditieren. Wenn er das schafft läuft alles auf
eine Entscheidung des US-Supreme Court hinaus.
Der dann wahrscheinlich republikanisch dominiert wird.
Hier kommt die zentrale Rolle des Senatsmehrheitsführers Mitch McConnell ins Spiel. Er soll sicherstellen, dass die Nachfolgerin der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg bis 3. November im Amt ist.
Denn wenn es zu einer Supreme-Court-Entscheidung über die Präsidentschaftswahl kommen sollte, könnte sich derzeit, bei nur acht Richtern, schlimmstenfalls ein Patt ergeben. Ich glaube aber, dass alle Richter, auch die Konservativen, ihre historische Verantwortung sehen würden, in diesem Jahr ein befriedendes Element zu sein.
Demgegenüber steht die Forderung vieler progressiver Demokraten, den Supreme Court um mehr Richterstühle aufzustocken, um die republikanische Mehrheit dort zu brechen. Ist das realistisch?
Die Idee ist nicht neu, Roosevelt hat mit dem „court-packing“ schon in den 30ern gedroht. Dies erwies sich als ziemlich unpopulär. Joe Biden scheint sich der Gefahr eines Präzedenzfalles bewusst zu sein, will aber nicht die linke Basis verprellen und lässt sich deshalb nicht zu einer definitiven Aussage hinreißen. Der Baufehler in der Verfassung ist der, dass für die Wahl in den Supreme Court anders als bei uns kein parteiübergreifender Konsens nötig ist. Aber sicher ist auch, durch die lebenslange Amtszeit droht nun ein sehr lange währendes konservatives Übergewicht im Supreme Court, das überhaupt nicht den tatsächlich herrschenden Mehrheiten in den USA entspräche. Ich verstehe deswegen sehr gut, dann man über eine Änderung der Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes nachdenkt. Immerhin hat sich aber bereits bei zwei Entscheidungen des Gerichtshofes in diesem Jahr und auch historisch gesehen gezeigt, dass dieser sich selbst bei republikanischer Mehrheit in seiner Urteilsfindung immer wieder als doch nicht so parteiisch erwiesen hat. Dass dies auch künftig so wird ist freilich nichts mehr als eine Hoffnung.