Spanien pflegt eine sehr emotionale Beziehung zu seiner Automarke Seat, deren Historie durchaus speziell ist.
Seat? Das war doch mal Fiat in Spanien und ist jetzt Audi. Derlei Stammtischweisheiten kursieren häufig über Spaniens einzig verbliebenen Serienautohersteller. Sie sind – vorsichtig ausgedrückt – nur mittelrichtig. Seat hat in der Tat eine Zeit lang Modelle von Fiat in Lizenz gebaut. Wahr ist ebenfalls, dass heute in einem spanischen Werk von Seat auch eine Baureihe von Audi gefertigt wird. Doch Seat war nie Fiat und ist nicht Audi. Die Markenhistorie ist stattdessen eine der spannendsten überhaupt in Europa. Sie begann in einer Zeit, in der Spanien in einer anderen Welt zu existieren schien.
Das Gründungsdatum, der 9. Mai 1950, fiel in die Ära von Francisco Franco. Zu verdanken haben die Spanier ihren Autohersteller aber indirekt den Vereinten Nationen. Seit Kriegsende war Spanien unter dem Diktator Franco weitestgehend isoliert von der Weltgemeinschaft.
Erst 1950 hoben die UN die diplomatische Isolation des Landes auf, um die Wirtschaftskrise im Land und ihre Folgen für die Bevölkerung zu entschärfen. Kurz darauf stellten Franco und sein Regime über das „Nationale Industrie Institut“ ein Stammkapital von 600 Millionen Peseten (heute etwa 3,6 Millionen Euro) bereit, um eine „Sociedad Española de Automóviles de Turismo“, kurz Seat, als Aktiengesellschaft ins Leben zu rufen. Mit der Gründung begannen die Bauarbeiten für ein neues Automobilwerk im Süden von Barcelona.
Landeskredit in Höhe von 150 Millionen Dollar
Für eigene Produktentwicklungen waren allerdings weder die dafür benötigten Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden, noch die finanziellen Möglichkeiten. Gleichzeitig wusste Franco um die Bedeutung des Automobils für die Ruhigstellung der Nation und damit für den eigenen Machterhalt. Autos mussten also her, egal wie. Seine Diplomaten schickte er unter strikter Geheimhaltung auf die Suche nach Wirtschaftspartnern ins Ausland. Das Regime liebäugelte mit Lizenzproduktionen. Das zeigte alleine schon Francos Fiskalpolitik, unter der zuvor noch der Import ausländischer Neufahrzeuge mit aberwitzigen Zöllen belegt worden war. Für die allermeisten Spanier waren solche Autos damit unbezahlbar. Also blieb nur der Umweg über im Inland zusammengeschraubte Autos, deren Entwicklung schon andere übernommen hatten.
In Italien fand man mit Fiat einen Partner, der in Sachen Lizenzvergabe viel Erfahrung aufzuweisen hatte – in Deutschland beispielsweise mit NSU, in Österreich mit Steyr oder in Frankreich mit Simca. Das erste in Barcelona gebaute Modell war 1953 der Seat 1400, ein in Lizenz gefertigter Fiat 1400. Vier Jahre später folgte mit dem Seat 600 ein Pendant zum Fiat 600. Vor allem er war es, der das Land im Wortsinn mobilisierte. Vier Plätze, 633 Kubikzentimeter und 22 PS – die Menschen waren glücklich mit ihrem „Seiscientos“.
Doch auch die anderen Modelle hatten ihre Bedeutung. Der 1400 etwa und ab 1963 der Seat 1500 (Lizenzbau des Fiat 2300) bildeten das Rückgrat der spanischen Taxiflotte, als die ersten Touristen einflogen und am Flughafen Anschluss suchten. 1964 kam der Seat 124 (Fiat 124), der nur knapp die Millionenverkaufsmarke verpasste. Das schaffte dann ab 1972 der Seat 127 (Fiat 127), der zum meistverkauften und meistexportierten Modells Spaniens überhaupt wurde.
Fast schon sinnbildhaft fiel die erste echte eigene Entwicklung auf das Todesjahr Francos. 1975 stellte Seat den 1200 Sport vor. Der basierte zwar plattformseitig auf dem 127er, war aber ein viersitziges Coupé mit hochmodernem Fastback. In Spanien waren die Jahre der „Transicion“ angebrochen, die Zeit des politischen und ökonomischen Wandels nach der Diktatur. Ritmo (1979) und Panda (1980) läuteten das Ende der Italien-Connection ein.
Die Beziehung zu Fiat endete anschließend in einem formidablen Rosenkrieg, da es die Italiener ablehnten, sich an einer dringend benötigten, aber vermutlich riskanten Kapitalerhöhung zu beteiligen. Für Seat war damit der Weg frei, neue Partner zu suchen – freilich unter Brautführung von Vater Staat. Die nun demokratisch legitimierte Staatsführung blieb Hauptanteilseigner und musste selbst Geld ins Unternehmen pumpen – über einen Landeskredit in Höhe von 150 Millionen Dollar.
Die durch eine solche Mitgift sichtlich aufgehübschte Braut fand so einen neuen, durchaus vorzeigbaren Bräutigam. Als im Oktober 1984 der Seat Ibiza auf dem Pariser Salon vorgestellt wurde, prangte auf dem Zylinderkopfdeckel die Aufschrift „System Porsche“. Der schwäbische Sportwagenbauer zeichnete für die Entwicklung der Benzinmotoren verantwortlich, deren Grundbauformen aus dem VW-Regal stammten. Auch die übrigen Partner zählten zur Hautevolee der Autobranche. Das Design etwa entstammte den Reißbrettern der italienischen Zeichenstube von Giugiaro. Die Karosserietechnik basierte auf Expertisen von Karmann in Osnabrück.
Privatisierung auf Drängen des VW-Chefs
Durch den Motorendeal mit Porsche ließen sich überdies Banden zum VW-Konzern knüpfen. In Wolfsburg sah man das Potenzial einer Marke mit südeuropäischen Wurzeln und machte die Kooperation mit Seat zur Chefsache. Der damalige VW-Chef Hahn rang der spanischen Regierung die Zusage ab, dass Seat privatisiert werde. Der Staat wiederum konnte dank VW zuversichtlich sein, seine an Seat verliehenen Penunzen wiederzusehen. Ein gutes Auto und ein potenter Partner – so was geht meistens gut. Der Ibiza erwies sich auch in Deutschland schnell schon als so erfolgreich, dass VW 1986 entschied, Seat mit 51 Prozent Anteil zu übernehmen.
Seit dieser Zeit ziert Seat seine Produktpalette mit Namen nach spanischen Orten, Regionen oder Inseln. Ein Blick in die Historie der Baureihen lässt wehmütig an eines der schönsten Länder Europas denken. Auf Ibiza folgten Malaga, Toledo, Cordoba oder Leon – die hispanophile Kundschaft war entzückt. Weiter ging’s mit Arosa, Altea, Ateca oder Arona. Diese Namenspolitik verfolgt Seat bis heute. So zum Beispiel beim aktuellen SUV Tarraco. Der Name steht für die antike Bezeichnung der Stadt Tarragona in der Region Katalonien.
Gebaut wird der Wagen allerdings woanders. Genauer gesagt in Wolfsburg, einer Stadt, die mit mediterraner Lebensweise so viel zu tun hat wie Teewurst mit Tapas. Da aber für die Fertigung des Tarraco ins gleiche Baukastensystem gegriffen werden muss, wie für den ebenfalls dort gebauten VW Tiguan, kommt der Spanier nun aus „Wolfsburgo“. Im Gegenzug baut Seat im spanischen Werk Martorell (1993 eröffnet) neben dem Ibiza und dem Leon heute auch den Audi A1.
Seat ist somit ein Paradebeispiel für die globalisierte Automobilindustrie. Aber auch eines für den immensen Wert einer Marke. Die Sympathiewerte in Spanien sind ungemein hoch. Es ist das Nostalgie-Syndrom. Wer in Spanien aufwuchs und heute zwischen 35 und 65 Jahre alt ist, hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seinen ersten Reise-Lolli auf der Rückbank eines Seat gelutscht. Das nennt man nachhaltige Markenbindung. In Spanien war Seat im vergangenen Jahr erneut Marktführer bei den Neuzulassungen. 107.954 Autos wurden hier ausgeliefert. 2020 wird sich ein solcher Absatz coronabedingt wohl nicht erreichen lassen. Dem Stolz der Spanier auf „ihre“ Marke aber wird das keinen Abbruch tun.