Natalie Grandjean ist die neue Polizeivizepräsidentin des Saarlandes. Einen besonderen Blick will die zweithöchste Gesetzeshüterin auf die sogenannten Cold Cases werfen, wie zum Beispiel den Fall des 2001 in Saarbrücken spurlos verschwundenen Jungen Pascal.
Mit „besonderen Lagen" kennt sie sich aus. Erpressung, Mord, Totschlag gehören zum Arbeitsalltag von Natalie Grandjean. „Schwere Jungs" machen der 49-Jährigen keine Angst, obwohl sie selbst eher zierlich daherkommt. Doch unterschätzen sollte man die 1,68 Meter große Frau lieber nicht. Schließlich hat sie als Leiterin der Abteilung für Organisierte Kriminalität schon so manches Schwergewicht der Unterwelt zur Strecke gebracht. Seien es nun Drogendealer, Menschenhändler, Geldfälscher, Steuerhinterzieher, Kinderschänder oder Cyberkriminelle.
Bisher flog die Riegelsbergerin größtenteils unter dem Öffentlichkeitsradar. Kein Wunder, war sie in ihrem Aufgabengebiet doch gut beraten, nicht allzu sehr im Fokus der Presse zu stehen. Das wird sich nun ändern. Denn als neue Polizeivizepräsidentin ist Natalie Grandjean nach Norbert Rupp die zweithöchste Gesetzeshüterin im Saarland, ist sozusagen das weibliche Gesicht der saarländischen Polizei.
In einem Bestenauslese-Verfahren hat sich die Kriminaldirektorin gegen den Chef der Polizeiinspektion Saarbrücken, Udo Schneider, und den leitenden Kriminaldirektor Peter Fuchs durchgesetzt.
Unkenrufe, dass mit Natalie Grandjean eine Quotenfrau oder eine „politische Lösung" gefunden wurde, verhallten schnell. Parteibuch hat sie keins. In einer der unterschiedlichen Polizeigewerkschaften – wie ihr Vorgänger Hugo Müller – ist sie auch nicht. Dafür ist ihre polizeiliche Laufbahn beeindruckend.
Nach der Ausbildung im klassischen Polizeidienst bei der Bereitschaftspolizei machte sie schon in jungen Jahren die Erfahrung, dass die Zeiten des „guten alten Schutzpolizisten" im realen Alltag auf deutschen Straßen lange vorbei sind. Bei Castortransporten in Gorleben, den Chaostagen in Hannover oder beim Eurogipfel in Essen lernte sie auch die härteren Seiten als Gesetzeshüterin kennen. „Gerade in Gorleben habe ich aber auch viel positives Feedback aus der Bevölkerung erhalten. Uns wurden Kaffee oder Brötchen gereicht. Damals spürte ich, dass der Polizei große Wertschätzung und Vertrauen entgegengebracht werden. Ein Grundgefühl, das bis heute bei mir anhält, trotz einzelner Ablehnungen und Beschimpfungen, die auch ich im Dienst erfahren habe. Man ruft uns, wenn wir gebraucht werden."
Nach dem Kommissarslehrgang war Natalie Grandjean bis 2001 in der Polizeiinspektion West (heute PI Burbach) tätig. „Hier kam ich mit vielen prekären Lebensverhältnissen in Berührung: Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol, Drogen, häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch. Einmal war ich zu später Stunde in einer Wohnung, in der es kein einziges Buch gab. Ich habe mich gefragt, was aus den Kindern wohl werden wird. In dieser Zeit habe ich mir geschworen, immer erst den Menschen zu sehen, ihn in seinem Umfeld zu betrachten, welche Startchancen er im Leben hatte und keine Vorverurteilung vorzunehmen."
„Ich habe die Hoffnung, dass wir irgendwann neue Beweise finden"
Zeitgleich zur Arbeit vor Ort in Burbach absolvierte Natalie Grandjean eine Zusatzausbildung in der Verhandlungsgruppe des Saarlandes, welche insbesondere in Sonderlagen wie Entführung, Erpressung oder Geiselnahmen zum Einsatz kommt. „Damals wurden zwei große Handelsketten im Saarland damit erpresst, dass ihre Lebensmittel vergiftet werden. Wochenlang haben wir in einer besonderen Aufbauorganisation gearbeitet, um die Fälle zu klären."
Diese ersten Berührungspunkte mit „herausragenden Einsatzlagen" – so der Polizeijargon – weckten den Ehrgeiz der jungen Polizistin, die damals noch im gehobenen Dienst bei der Schutzpolizei war. Es folgten eine Reihe von Qualifizierungsmaßnahmen, unter anderem auch beim Bundeskriminalamt in Fallanalyse, an deren Ende sie ihre Uniform als Schutzpolizistin an den Nagel hing. Fortan ermittelte sie in „Zivil" bei der Kriminalpolizei unter anderem im Landeskriminalamt bei Tötungs- und Sexualdelikten sowie bei Kinderpornografie und Vergewaltigungen.
„In dieser Zeit war ich auch am Rande mit dem Fall Pascal befasst. Damals war ich in der Ermittlungsgruppe eingesetzt, die die Spurenlage rund um das Verschwinden des fünfjährigen Jungen aus Burbach aufklären sollte." Später, als der Fall andere Dimensionen angenommen hatte, und die Wirtin der „Tosa-Klause" und weitere elf Angeklagte vor Gericht standen, hatte Natalie Grandjean die Aufgabe, aus Schutzgründen eine der Nebenklägerinnen regelmäßig zu den Gerichtsverhandlungstagen zu begleiten. Das Verfahren zog sich rund drei Jahre hin und endete nach 147 Verhandlungstagen und nervenaufreibenden 294 Zeugenvernehmungen mit Freisprüchen für alle zwölf Angeklagten. Die Wirtin kam auf freien Fuß und lebt seitdem in ihrem Haus in Riegelsberg. Ein harter Schlag für die saarländische Polizei und für Natalie Grandjean. „Jedes Jahr, wenn die Plakate für das Oktoberfest in Burbach aushängen, muss ich an den kleinen Pascal denken. Wir haben alles getan, was für die Aufklärung des Verbrechens möglich war. Ich habe die Hoffnung, dass wir irgendwann neue Beweise finden und herausbekommen, was mit Pascal geschehen ist."
Ab dem Jahr 2005 folgte der Aufstieg in den höheren Dienst, zu dem sie ihr damaliger Bürokollege fast noch drängen musste. Daran schloss sich die Rats-Ausbildung in Rheinland-Pfalz, Hessen und in Münster (der heutigen Hochschule der Polizei) an. Hier hat sie auch Norbert Rupp, den heutigen Polizeipräsidenten kennen und schätzen gelernt. Er war damals ihr Dozent für Führungslehre im ersten Ausbildungsjahr. Seitdem verbindet sie ein vertrauensvolles Verhältnis, was der jetzigen Zusammenarbeit zugutekommt.
Als stellvertretende Leiterin des Führungsstabs der Landespolizeidirektion war sie unter anderem auch zuständig für die Videoüberwachung der Saarbrücker Synagoge. „Ich empfand diese Aufgabe als große Ehre für mich, ein jüdisches Gotteshaus zu schützen." Als 2012 Landespolizeidirektion und Landeskriminalamt zusammengelegt wurden, übernahm sie die Leitung der noch sehr jungen Führungs- und Lagezentrale in Saarbrücken. Hier liefen fortan alle 110-Notrufe zentral zusammen. „Bis die neue FLZ von den damaligen Polizeiinspektionen akzeptiert wurde, hat uns viel Fingerspitzengefühl und Beharrlichkeit gekostet. Wir haben versucht, unsere Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen auf diesem Reformweg. Heute läuft alles reibungslos, und die Dienststelle ist nicht mehr wegzudenken", erinnert sich Natalie Grandjean.
„Die vielen strukturellen Wechsel in der saarländischen Polizei sowie meine beruflichen Weiterentwicklungen habe ich immer als positive Herausforderungen erlebt. Raus aus der Komfortzone, mich neuen Aufgaben stellen, das ist mein Ding. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht – lautet mein Lebensmotto."
Dazu passt es, dass Natalie Grandjean im Laufe ihrer über 28-jährigen Berufserfahrung rund 60 Einsätze bei herausragenden Einsatz-Lagen selbst geplant und geführt hat, viele davon mit Unterstützung des SEK – also des Sondereinsatzkommandos. Sei es bei Kontrollen im Zuhältermilieu in saarländischen Bordellen oder in der Rockerszene gegen die Osmanen-Gang. Natalie Grandjean duckt sich nicht weg, sondern geht voran. Ihre Ausbildung zur „Polizeiführerin für Sonderlagen" sowie ihre Erfahrungen mit der Organisierten Kriminalität kommen ihr hierbei zugute.
„Wir brauchen mehr und besser ausgebildetes Personal"
Ihre neue Aufgabe als Polizeivizepräsidentin sieht sie gemeinsam mit dem Landespolizeipräsidenten in der Entwicklung einer modernen Gesamtstrategie für die saarländische Polizei, damit die innere Sicherheit weiterhin auf höchstem Niveau garantiert werden kann. „Dafür brauchen wir mehr und besser ausgebildetes Personal. Wir denken hierbei einerseits an eine Reaktivierung bereits ausgebildeter Einsatzkräfte, die zurzeit in Elternzeit sind. Dank der neu eingerichteten Online-Wache können viele auch aus dem Homeoffice wieder früher beruflich tätig werden. Und andererseits denken wir an eine Spezialisierung unserer Kolleginnen und Kollegen, die wir mit Blick auf die wachsende Cyberkriminalität ständig fortbilden müssen. Ganz wichtig ist die fortlaufende Digitalisierung unserer Ermittlungstätigkeiten und die Harmonisierung der polizeilichen IT-Infrastruktur zwischen den Bundesländern und mit dem Bund."
Einen besonderen Blick will Natalie Grandjean auf die sogenannten Cold Cases werfen. 16 solcher unaufgeklärter Kapitalverbrechen der vergangenen Jahre sollen wieder aufgerollt werden. „Vielleicht können wir mithilfe neuer Ermittlungsverfahren, wie zum Beispiel DNA- oder operativer Fallanalyse, die Täter doch noch ermitteln."
Dass in der saarländischen Polizei nicht alles zum Besten steht, weiß Natalie Grandjean. Die Zufriedenheit der eigenen Belegschaft mit ihrem Job ist – nach jüngsten internen Umfragen – stark gesunken. „Hier müssen wir uns fragen, ob wir richtig miteinander kommunizieren, und was wir grundsätzlich verbessern können."
Im Team mit Norbert Rupp, den sie stets „als Kümmerer" erlebt hat, wird auch sie die Nähe zur Belegschaft und die stets offene Tür teilen, weil beiden die Mitarbeiterzufriedenheit stark am Herzen liegt.