Fast 40 Jahre lang galten sie als Gipfel der Spießigkeit. Diesen Winter haben die Pullunder ihr Opa-Image abgelegt und feiern in der Damen- wie der Herrenmode ein Comeback. Dabei bleiben allerdings viele Geschmacksfragen unbeantwortet.
Comedian Olaf Schubert wird sich künftig wohl nach einem neuen persönlichen Markenzeichen umsehen müssen. Denn sein auffälliger Argyle-Pullunder taugt nicht länger als Outfit-Provokation, denn die Designer der Damen- wie Herrenmode haben die ärmellose Strickware diesen Winter zu einem der Haupttrends deklariert. Mit den „Sweater Vests", wie die Pullunder im Englischen genannt werden, wird damit das neueste Kapitel in Sachen Ugly-Fashion aufgeschlagen, weshalb die deutsche „Vogue" die Kuschelteile auch ganz treffend als „Ugly Sweater Vests" bezeichnet hatte. Sie waren seit den 80er-Jahren nahezu komplett von der modischen Bildfläche verschwunden, fristeten allenfalls noch ein Nischendasein in der Popper-Szene oder waren hierzulande zu einem skurrilen, viel belächelten Oberbekleidungsstück bekannter Politiker wie Hans-Dietrich Genscher, Ludwig Stiegler oder auch der jungen Angela Merkel degeneriert. In den 70ern, der Hochzeit des Pullunders, war das gänzlich anders gewesen. Denn in dieser Dekade war das Strickteil, das ursprünglich aus der Sportwelt stammt und noch immer zur Standardgarderobe von Golfern oder Cricketspielern gehört, von der bunten Hippie-Bewegung adoptiert worden, vorzugsweise mit Argyle-Muster, und wurde gern über Paisley-Hemden, Seiden-Blusen mit verlängertem Kragen oder Rollkragenpullovern getragen.
In den 80ern wurde der Pullunder dann gemeinsam mit anderen präferierten Klamotten der Flower-Power-Bewegung wie den Schlaghosen oder den Batik-Print-Kleidern in den modischen Vorruhestand geschickt und wandelte dabei sein Image grundlegend von einem progressiven in ein spießig-erzkonservatives Kleidungsstück, das allenfalls noch im Kreise von Senioren anzutreffen war. Oder auch bei Nerds, die ihr Außenseitertum durch das Überstreifen dieses nicht mehr salonfähigen und fast schon als Modesünde geltenden Teils bewusst unterstreichen wollten. Nicht zuletzt wurden ewige Junggesellen mit Pullundern assoziiert. „Ein Mann im Pullunder wurde unsichtbar", so „Zeit"-Stilkolumnist Tillmann Prüfer, „jedenfalls für das weibliche Geschlecht. Wer einen Pullunder trug, konnte seine erotische Ausstrahlung damit praktisch auf null reduzieren. Im Pullunder war man ganz klar jemand, der nicht am feurigen Spiel der Geschlechter interessiert ist, geschützt gegen jede Versuchung, denn eine brenzlige Situation würde sich garantiert nicht einstellen."
Verstaubtes Image langsam abgelegt
Wie es ein dermaßen abgehalftertes Kleidungsstück überhaupt schaffen konnte, zu einem neuen Trend-Piece aufzusteigen, ist eine mehr als berechtigte Frage. Sie allein mit dem generellen, vor allem von Guccis Alessandro Michele losgetretenen Hype um die seltsamerweise begehrte Hässlichkeit beantworten zu wollen, würde etwas zu kurz greifen. Tillmann Prüfer hat in der „Zeit" die Hinwendung zum Pullover besonders in der Damenmode als neues Zeichen von Individualität und Unangepasstheit zu erklären versucht: „Der Pullunder macht jeden Look auf verstörende Weise trendfremd, er wirkt heute auf rebellische Weise brav. Mit so einem Kleidungsstück signalisiert man auf den ersten Blick, dass einen die modischen Maßstäbe oder Schönheitsideale anderer nicht interessieren, man wirkt frei und unangepasst. Der einst angepasste Pullunder ist heute eine Provokation." Ein anderer Deutungsversuch des Pullunder-Revivals versucht einen Zusammenhang mit der zunehmenden Ironisierung der Mode herzustellen, in dem Sinne, dass genau das angesagt und modern sein soll, was eigentlich absolut unmodern ist.
Das modische Wiederauftauchen des Pullunders ging ganz vorsichtig etappenweise über die Bühne. Beginnend in der Damenmode ab dem Jahr 2015 und damals von kaum jemandem so richtig zur Kenntnis genommen. Im Winter 2018 riet die „Süddeutsche Zeitung" ihren Leserinnen schon mal dazu, womöglich ihre Vorurteile bezüglich des Pullunders zu überdenken: „Das ungeliebte Teil steht seit jeher unter Spießigkeitsverdacht und wird mit Frauen in Verbindung gebracht, deren Brillenketten über riesigen Busen baumeln, Fachverkäuferinnen also oder Sekretärinnen. Der offensichtliche Grund für die neu entdeckte Liebe ist natürlich, dass der Pullunder der Frau mit vollem Kleiderschrank ja völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Endlich kann sie ihre in den letzten Jahren liebevoll angesammelten Oversize-Blusenkollektionen auch im Winter herzeigen."
Als im Winter 2019/2020 der Pullunder in immer mehr Designer-Kollektionen aufgetaucht war (beispielsweise bei Maison Margiela oder Gucci) und der Hype auch im Sommer 2020 anhielt (nun waren auch Louis Vuitton mit einer schillernden Pailletten-Variante oder Altuzarra mit einem cremefarbenen Modell in Rippstrick im Spiel), wurde der Trend ausführlich von zahlreichen Medien aufgegriffen, nicht zuletzt deshalb, weil Pullunder auf Instagram inzwischen an bekannten Influencerinnen wie Gabriella Berdugo, Xenia Adonts, Yoyo Cao, Valentina Marzullo oder Emili Sindlev gesichtet worden waren. Und als Megastar Bella Hadid Anfang 2020 in einem Acryl-gemusterten Pullunder, Grundfarbe Weinrot mit grau-blauen Karos samt gelben Details, abgelichtet worden war, gab es für das Magazin „InStyle" kein Halten mehr: „Pullunder sind dieses Jahr so angesagt wie nie. Denn wenn das Strickteil eines nicht mehr ist, dann oll. Im Gegenteil, Pullunder werden im Herbst 2020 sogar sexy, denn wir tragen sie – Achtung, Trommelwirbel – als Top. Pullunder werden sozusagen ohne alles getragen und sind somit der Herbst-Trend schlechthin. Egal ob als oversized Strickoberteil oder als enges Top – Pullunder sind jetzt echte Fashion-Statements und sorgen immer für einen Wow-Effekt des Looks."
Auch wieder in der Menswear zu sehen
Was Bella Hadid in Sachen Pullunder für die Ladys war, sollte Stilikone Harry Styles für die Männerwelt werden. Denn spätestens seit Styles bei einem Auftritt in der TV-Show „Saturday Night Live" in einem dunkelblauen Strickteil von Lanvin gesichtet worden war, waren auch die Menswear-Beobachter voll des Lobes für die neuen Pullunder-Kreationen, die denn auch im Winter 2020/2021 in den Männer-Kollektionen von Prada, Vetements, Givenchy, Magliano oder Off-White repräsentativ vertreten sind. Dabei haben die Herren der Schöpfung die Wahl zwischen monochromen Teilen (Klassiker Schwarz), Pullunder im College-Style, in leuchtendem Grobstrick oder mit großzügiger Musterung wie dem Hahnentritt.
In den aktuellen Damenkollektionen des Winters 2020/2021 tauchen die Pullunder bei etlichen Designern auf, beispielsweise bei Prada, Dior, Lacoste, Marc Jacobs, Cecilie Bahnsen, Dries Van Noten, Margaret Howell, Simone Rocha oder Eckhaus Latta. Wobei auffällig ist, dass keines der Labels seine Models, wie von „InStyle" mit Blick auf Bella Hadid postuliert, mit Pullundern über nackter Haut auf dem Laufsteg flanieren ließ. Stets waren die Strickteile über größtenteils langarmigen Hemden oder Blusen arrangiert. Den ungewöhnlichsten Print präsentierte Prada mit psychedelisch anmutenden Muster-Pixeln. Viel zurückhaltender dagegen die grauen Pullunder von Marc Jacobs, ungewöhnlich brav auch die Umsetzungen von Gucci oder Dior. Fast bis zu den Knien reichen die Grobstrick-Teile samt Perlenschmuck von Simone Rocha. Lacoste lässt den Damen die Wahl zwischen Leuchtfarben oder vornehmem Weiß. Daneben gibt es natürlich auch die traditionellen Plaid- und Streifenmuster-Varianten. Beim Schnitt haben die Ladys die Qual der Wahl zwischen Oversize oder eng anliegenden Exemplaren, die es je nach Gusto mit Rundhals- oder V-Ausschnitt gibt. Auch Rollkragen-Modelle sind angesagt. Wer sich partout nicht mit dem Pullunder-Trend anfreunden mag, kann zudem diesen Winter auf stylische Westen als Alternative zurückgreifen, wie sie Celine, Dior oder Etro in ihren aktuellen Kollektionen bereithalten.