Angela Merkel ist vor laufender Kamera über die Eigenständigkeit der Bundesländer verärgert. Um Druck auf sie zu machen, holt sie sich Wissenschaftler ins Haus. Doch die überzeugen auch nicht immer.
Man möge den Herrn Professor jetzt bitte nicht ansprechen, da er sich auf die Pressekonferenz vorbereiten muss. Die junge übereifrige Assistentin ist in ihrem Auftreten ähnlich resolut wie ihr oberster Dienstherr. Der Mann, seit einem halben Jahr praktisch jedem Fernsehzuschauer in Deutschland bekannt wegen der von ihm wöchentlich vorgestellten Corona-Zahlen, steht mitten im Lichthof der Bundespressekonferenz und tippt auf seinem Smartphone vor sich hin. Professor Dr. Lothar Heinz Wieler aus Königswinter im Rhein-Sieg-Kreis in Nordrhein-Westfalen ist ausgebildeter Veterinär und Mikrobiologe und seit vier Jahren Präsident des Robert-Koch-Instituts in Berlin und damit einer der ersten Experten, bei dem sich Regierende Rat holen. Lothar Wieler hatte den „Faktor R" maßgeblich publik gemacht, den Reproduktionsfaktor für das Coronavirus. Dieser darf auf keinen Fall den Wert von 1,0 übersteigen, sonst „droht eine unkontrollierbare Pandemie", sagte er noch im März. Daraufhin wurde Deutschland vorübergehend abgeschaltet. Jetzt, im Spätherbst, ist der „Faktor R" offenbar in der Versenkung verschwunden. Zwischenzeitlich, im Sommer, gab es mal einen „geglätteten Faktor R", den hatte der Vize-Präsident des Robert-Koch-Instituts errechnet. Aber auch dieser hatte sich als wenig praktikabel erwiesen. Selbst diplomierte Mathematiker konnten die Berechnung rein wissenschaftlich nicht nachvollziehen.
Doch der Stern des Professors ist nach diesem mathematischen Missgeschick gesunken. Bei der Kanzlerin ist er offenbar in Ungnade gefallen. Denn als Mitte Oktober ein „historisches Treffen", so Kanzleramtsminister Helge Braun, im Kanzleramt in Sachen Corona anberaumt wurde, war der Chef des Robert-Koch-Instituts gar nicht erst eingeladen.
Lothar Wieler hat bei dem Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten aber auch nicht viel versäumt. Die Zusammenkunft in der Kanzlerschaltstelle in Sachen Corona-Maßnahmen war weniger historisch, dafür aber verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Die Bundeskanzlerin hatte im Handstreich die Ministerpräsidentenkonferenz gekapert. Anstatt wie sonst im Bundesrat, fand diese, auf Anweisung von Merkel, im Kanzleramt statt. „Es herrscht Präsenzpflicht", verkündete Regierungssprecher Steffen Seibert. Damit konnten Daniel Günther (Schleswig-Holstein), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und Tobias Hans (Saarland) ihren Herbsturlaub mit den Kindern mal gleich wieder abbrechen. Aber warum soll es ihnen anders ergehen als Tausenden von Bundesbürgern, die aufgrund des Beherbergungsverbots nicht urlauben konnten, wird sich da wohl das Protokoll im Kanzleramt gedacht haben.
Die Landeschefs mussten bei Merkel antanzen
Diese Präsenzpflicht der Länderchefs ist aus einem weiteren Grunde bemerkenswert. Die Ministerpräsidenten mussten im Kanzleramt antanzen, obwohl es sich bei dem geplanten Treffen um ihre eigene Veranstaltung gehandelt hat, eben der Ministerpräsidentenkonferenz. Die findet regulär im Bundesrat und nicht im Kanzleramt statt. Die Stimmung zum herbstlichen Corona-Gipfel war unter den Herbeizitierten also schon mal nicht so richtig gut. Doch die Bundeskanzlerin setzte politisch noch einen obendrauf. Merkel hatte einen Wissenschaftler geladen, nicht Professor Wieler, sondern Michael Meyer-Hermann, Professor an der Technischen Universität Braunschweig und Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Von der Ausbildung her ist er kein Virologe, sondern Mathematiker. Dementsprechend hielt Professor Meyer-Herrmann aus Braunschweig einen Grundsatzvortrag zu den Eigenheiten der Exponentialfunktionen und was die für die Corona-Infektionen in Deutschland bedeutet. Die Ministerpräsidenten waren dafür über eine Stunde lang im Pennäler-Modus bei der Kanzlerin. Am gleichen Abend empfahl der Mathematikprofessor aus Braunschweig dem staunenden Volk vor den Fernsehgeräten: „Bleiben Sie zu Hause, und streichen Sie doch mal vielleicht ihre Wände!"
Eine neue, konsequente Maßnahme gegen die Ausbreitung von Corona. Da wundert es wenig, dass dieses Zusammentreffen von Bundeskanzlerin und den Landeschefs ohne wirkliches „gemeinsames Ergebnis" auseinandergegangen ist, die Ministerpräsidentenriege fühlte sich schlicht und ergreifend „verscheißert", so eine Teilnehmerin gegenüber FORUM. Dieses dumpfe Gefühl beschleicht nun offenbar selbst die Abgeordneten der Regierungsfraktionen im Bundestag. Nicht nur dem SPD-Rechtsexperten Achim Post geht die Verordnungs-Allmacht von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu weit. Auch Christdemokrat Carsten Linnemann will es nicht länger hinnehmen, dass Verordnungen über seinen Bundestagskopf hinweg im Kanzleramt entschieden werden. „Da wird doch nicht mal mehr das Kabinett gefragt", so Linnemann. Bislang war solche Kritik von FDP, den Linken, den Grünen und der AfD zu hören.
Todeszahlen sind nicht exponenziell gestiegen
Aber nach dem völlig verpatzten Corona-Gipfel, der obendrein keine verfassungsrechtliche Legitimation hatte, ist Volkvertretern wie Post und Linnemann dann endgültig der Kragen geplatzt. Denn die Corona-Verordnungsherrlichkeit der Bundesregierung soll nun bis Ende März kommenden Jahres verlängert werden, dies sieht zumindest ein Kabinettsbeschluss vor. Vermutlich werden dies auch die Fraktionen von SPD und Union im Bundestag durchwinken. Doch die kritische Masse in den eigenen Regierungsreihen wird größer.
Gerade in der Union müssen sich die Direktkandidaten in ihren Wahlkreisen anhören, dass nicht alle vorgebrachten Zweifel auf den bundesweiten Demonstrationen Fake News sind. So geriet RKI-Chef Lothar Wieler bei einer Pressekonferenz auf Nachfrage erheblich in die Bredouille, als es um das Verhältnis der Zahlen von Corona-Infektionen zu den Sterbefällen ging. Denn im Gegensatz zu den Infektionszahlen sind die Todeszahlen nicht exponenziell gestiegen.
Ganz im Gegenteil: Noch nie sind seit 1950 so wenig Menschen in Deutschland eines „natürlichen Todes" gestorben wie in den letzten neun Monaten. Warum das so ist, kann auch der Präsident des Robert-Koch-Instituts nicht schlüssig erklären. „Das Virus", so Lothar Wieler, „ist hochgradig gefährlich, aber dadurch, dass wir von dessen Existenz wissen, reagieren wir schneller und ergreifen dementsprechend auch die nötige, medizinische Vorsorge." Doch dann wird es spannend, denn der Virologen-Präsident räumt eine mathematische Gegebenheit ein, die er noch im FORUM-Interview im Frühsommer als „abwegig" abgetan hatte.
Wieler musste klarstellen, dass durch die mittlerweile hohe Zahl der Corona-Tests auch automatisch mehr Infektionen erkannt werden. Auf FORUM-Nachfrage, ob der „Faktor R" damit ein Fehler war, dreht sich der Professor um und geht. Für solche Fragen steht der gelernte Tierarzt nicht zur Verfügung. Schon gar nicht in dem Augenblick, da gerade die dritte Eilmeldung über sein Smartphone gerauscht ist: Auch Brandenburg setzt das Beherbergungsverbot aus. Ausgerechnet jetzt, wo er gerade eine Verschärfung der Quarantäne bis hin zum kompletten Abriegeln von Landkreisen „für möglich" erklärt hat. •