Die Schuldebatte hat nicht nur wegen der Corona-Folgen wieder Fahrt aufgenommen. Der Saarländische Philologenverband hat die G8/G9-Diskussion neu entfacht, die CDU will die Gymnasien stärken. Der bildungspolitische Sprecher Frank Wagner über Ziele, Übergänge und mühsame Diskussionen.
Herr Wagner, Bildungspolitik scheint ein besonders undankbares Feld: Es geht im Grunde oft um dieselben Fragen, alle fühlen sich aufgerufen mitzureden, am Ende steht selten ein richtiges Ergebnis. Täuscht dieser Eindruck?
Bildungspolitik ist ein herausfordernder Bereich, wenn man sieht, wie vielfältig er ist. Ja, es gibt häufig negative Stimmen, egal, was gemacht wird. Für mich war es aber eine große Chance, dass die CDU diese Aufgabe neu zu besetzen hatte, als ich 2017 in den Landtag kam, und ich diesen Bereich in der Verantwortung übernehmen durfte. Ich bereue keinen Tag, Bildungspolitiker zu sein. Ich denke, dass ich alle Facetten als Lehrer, Schulleiter und in der Lehrerausbildung kenne und damit authentisch vertreten kann gegenüber den Lehrern und Schulleitern, aber auch Eltern und Schülern.
Eines der Dauerthemen ist jetzt wieder auf die Agenda gerückt. Die Diskussion um G8/G9. War dazu nicht schon alles in den vergangenen Diskussionen gesagt?
In einzelnen Bundesländern, vor allem auch in denen, die eigentlich eine sehr konstante Bildungspolitik in den letzten Jahren durchgeführt haben, wie zum Beispiel Bayern, wurde die Diskussion über die Schulzeit an Gymnasien wieder aufgenommen. Wir haben zu Beginn dieser Legislatur klar gesagt, dass wir erst einmal den Ausgang des Volksbegehrens abwarten. Das war auch der ehemaligen Ministerpräsidentin sehr wichtig. Das Ergebnis der Petition war für uns sehr aussagekräftig. Wir treten weiter für Schulfrieden ein, wollen keine neue Strukturdebatte. Wir haben in einem langen Prozess die „Qualitätsoffensive Gymnasium" vorbereitet, weil uns Rückmeldungen bestätigt haben, dass das Gymnasium seit Umstellung auf G8 nicht mehr viele Neuerungen erfahren hat. Es ist zwar an einigen Stellschrauben gedreht worden, aber Veränderungen hinsichtlich neuer gesellschaftlicher Herausforderungen, Stichworte Globalisierung und Digitalisierung, sind nicht vollzogen worden. Uns geht es darum, über das Profil und neue Inhalte nachzudenken. Das ist dann überlagert worden durch den Vorstoß der Philologen zu „Gymnasium Plus", wo G9 ein Baustein ist. Damit war klar, dass das auch ein Punkt in der öffentlichen Diskussion ist. Wir wollen das Gymnasium fit machen für die Zukunft, eine Profilstärkung, um das eigentliche Ziel, dass Schülerinnen und Schüler gut auf ein Hochschulstudium vorbereitet sind, zu erreichen. Wenn für dieses Ziel mehr Schulzeit benötigt wird, stehen wir dem offen gegenüber.
Was soll die Profilstärkung erreichen?
Es gibt bereits unterschiedliche Zweige, naturwissenschaftliche, sprachliche und andere. Wir glauben, dass zu einer Profilschärfung unter anderem die Bereiche Informatik und Digitalisierung, die auch später für Hochschulstudium und den Beruf wichtig sind, fest implementiert werden müssen. Zur Informatik gehört auch digitales Lernen. Das möchten wir fest im Gymnasium verankern.
Also ein eigenes Schulfach?
Ja. Das ist an vielen Gymnasien bereits der Fall, wir möchten es aber bereits in der Mittelstufe fest verankert haben, um auf die Oberstufe mit ihren Schwerpunkten vorzubereiten. Das ist ein wesentlicher Teil. Wir nehmen aber auch Fächer in den Blick, die etwas in Vergessenheit geraten sind, alte Sprachen zum Beispiel, oder auch den Bereich der Gesellschaftswissenschaften, inwiefern dort Inhalte und Wissen vermittelt werden, die später in Studium und Beruf wichtig sind. Es geht konkret darum, inhaltlich zu prüfen, was zeitgemäß ist.
Schließt die Frage nach dem, was zusätzlich gebraucht wird, dann auch die Frage ein, wovon man sich trennen kann, um das alles nicht zu überfrachten?
Das gehört sicher mit dazu. Das wollen wir vor allem mit den Fachvorsitzenden der einzelnen Fächer besprechen, denn da ist in den letzten Jahren zu wenig passiert. In Gesprächen mit der Universität, den Professoren, aber auch Unternehmern verschiedener Branchen ist deutlich geworden, dass oft trotz gutem Abitur Wissenslücken da sind, was in Stütz- oder Aufbaukursen aufgearbeitet werden muss. Also müssen wir schauen, dass mit dem Erwerben der Allgemeinen Hochschulreife auch die Kompetenzen da sind, die benötigt werden.
Haben Sie bei dieser Defizitanalyse auch eine Erklärung für die Entwicklung?
Bei Lehrplänen ist sicher viel Neues hinzugekommen, bei dem man die Frage stellen muss, wie sinnvoll das ist. Es gehört aber auch dazu, dass die Gesellschaft und die Welt insgesamt sich verändert haben. Deshalb müssen auch Schwerpunkte gesetzt werden, was an vielen Gymnasien bereits der Fall ist, was dann aber letztlich für alle weiterentwickelt werden muss.
Es gibt ja in schöner Regelmäßigkeit Vorschläge, was noch alles in die Schule aufgenommen werden soll. Wie wollen Sie da Prioritäten setzen?
Das geht vor allem dadurch, sich mit allen Beteiligten an einen Tisch zu setzen, auch von den Eltern Feedback zu bekommen. Wir wollen vor allem die Mittelstufe stärken, damit dort ein guter Grundstock gelegt und das Wissen breit aufgestellt wird. Die Schüler müssen auf die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft vorbereitet werden.
Wer ist in diesen Diskussionen weiter: Lehrkräfte, Eltern, Verbände?
Es bringt jeder seinen Teil ein, und in der Regel fokussiert sich das auch sehr schnell auf das Ziel, dass die Allgemeine Hochschulreife erreicht werden muss, also eine Wissenschaftsorientierung, aber auch Fragen der Kommunikation. Dabei muss das Erreichen der Studierfähigkeit im Mittelpunkt stehen.
Meint das soziale Kompetenz?
Das spielt natürlich auch beim Gymnasium eine wichtige Rolle. Deshalb ist es wichtig, dass die Schülerschaft nicht zu heterogen zusammengesetzt ist. Darum haben wir auch die Frage der Zugangsvoraussetzung in den Blick genommen.
Womit Sie erwartbar in ein Wespennest gestochen haben.
Sicher, aber es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Schüler im fünften oder sechsten Schuljahr merken, dass sie nicht in der passenden Schulform angekommen sind. Mit der Entscheidung, dass die Grundschulempfehlung nicht mehr bindend ist, ist ein gewisser Druck abgefallen und die Entscheidung in die Hand der Eltern gelegt worden. Wir können uns vorstellen, dass es vielleicht eine weitere Beratung mit der aufnehmenden Schule geben könnte, damit der Schüler sehen kann, was auf ihn zukommt. Und die frühere Erfahrung mit Tests hat gezeigt, dass sich in der Regel die Empfehlungen der Grundschulen dabei bestätigt haben. Wir möchten das zumindest noch einmal diskutiert haben, weil sich vieles verändert hat.
Bedeutet das nicht auch eine gewisse Bevorzugung des Gymnasiums?
Wir wollen mit der Profilstärkung der Gymnasien auch anderen Schulformen den Blick geben, den sie verdient haben. Die Gemeinschaftsschule hat in den letzten Jahren einen tollen Job gemacht, ist sehr breit aufgestellt und hat sehr viele Möglichkeiten zur individuellen Förderung mit zusätzlicher Unterstützung. Im Übrigen hat unser Schulsystem eine Durchlässigkeit, die an ganz vielen Stellen einen Wechsel möglich macht. Das bezieht dann auch die beruflichen Oberstufengymnasien mit ein.
Wie stellen Sie sich den Übergang künftig vor?
Es gibt derzeit vor den Halbjahreszeugnissen der Klassenstufe 4 eine Beratung der Grundschulen, um die Beratung möglichst neutral zu halten. Da geht es vorwiegend um Gemeinschaftsschule und Gymnasium. Der Bereich der Beruflichen Schulen wird nicht erwähnt. Der kommt zwar auch erst einige Jahre später, aber wir glauben, es ist wichtig, dass die Eltern einen Gesamtblick mit allen Möglichkeiten erhalten und sehen, dass dem Kind kein Nachteil entsteht, wenn es den Weg über die Gemeinschaftsschule geht. Wir müssen also noch mal genau hinsehen, wie beraten wird, und vielleicht muss man auch noch mal eine zweite Beratungsrunde mit den weiterführenden Schulen überlegen. Wir sprechen deshalb auch lieber anstatt von einem zweigliedrigen Schulsystem von drei Säulen: Gymnasium, Gemeinschaftsschule und Berufliche Schulen.
Das hört sich nach einer Aufwertung der Beruflichen Schulen an.
Der Prozentsatz der Schüler, die ihren Abschluss dort machen, ist relativ hoch. Wir glauben, Schüler sollten frühzeitig sehen, welche Möglichkeiten sie dort nach der Klassenstufe zehn haben, bis hin zur Allgemeinen Hochschulreife, übrigens der gleiche Abschluss wie an Gymnasien, aber mit einem zusätzlichen beruflichen Schwerpunkt. Das ist vielen gar nicht so bewusst. Deswegen legen wir so großen Wert auf die Beratung über die verschiedenen Übergangsmöglichkeiten.
Welche Erfahrungen aus den Corona-Zeiten und den erzwungenen Schulschließungen werden bleiben?
Ganz klar digitales Lernen, das pandemiebedingt praktisch von null auf hundert benötigt wurde. Man hat dabei allerdings auch große Unterschiede festgestellt. Schulen, die ohnehin in bestimmten Bereichen Schwerpunkte hatten und entsprechend ausgestattet sind, auch mit Breitband, bis zu Schulen, die eben noch nicht so weit sind. Da hat man auch die Kluft gesehen, nicht nur zwischen den einzelnen Schulformen, sondern auch in den Schulregionen. Wir haben aber auch die großen Chancen gesehen, die die digitale Bldung ermöglicht. Es gibt viele Best-Practice-Beispiele, aus denen man lernen kann. Da müssen wir dranbleiben, Lehrer müssen fortgebildet werden und Schulen entsprechend ausgestattet werden. Mittel stehen bereit, das Saarland hat dort in den letzten Wochen einen guten Job gemacht. Gleichzeitig geht es auch um Unterrichtsinhalte.
Jetzt sind aber die Begeisterung und die Bereitschaft für die digitale Schulwelt in der Lehrerschaft unterschiedlich ausgeprägt. Wie gehen Sie damit um?
Natürlich sind auch Ängste da, und viele Lehrkräfte stoßen auch organisatorisch an ihre Grenzen, weil es jetzt mit dem Präsenzunterricht auch eine Reihe neuer Aufgaben gibt. Sicher fühlt sich der eine oder andere überfordert. Da kann man im Kollegium einiges auffangen, aber es ist schon eine riesige Herausforderung. Dafür brauchen wir anschlussfähige Fortbildungskonzepte, damit der eine nicht über- und der andere nicht unterfordert wird. Aber klar ist: Wir brauchen klare Ziele und Vorgaben.
Was heißt das insgesamt für die Lehrerausbildung?
An den Universitäten hört man auch, dass man durch die Pandemie Formate neu überdenken muss. Natürlich müssen diese Inhalte im Referendariat eine Rolle spielen bis hin dazu, dass man vielleicht auch mal Prüfungen digital ablegt. Das ist ein Prozess, aber ich bin überzeugt, dass sich der Lehrer von heute und erst recht der von morgen sicher im Bereich der digitalen Bildung bewegen können muss. Aber wir haben gleichzeitig ja auch gesehen, wie wichtig der Präsenzunterricht ist. Das muss dann mindestens ebenso im Mittelpunkt bleiben.
Ihre Vorschläge sind beim Koalitionspartner SPD nicht gerade auf große Begeisterung gestoßen.
Wir möchten mit allen über Qualität und die Weiterentwicklung des Gymnasiums reden und laufen damit auch offene Türen ein. Vonseiten des Koalitionspartners vernehme ich zu meiner Verwunderung bis jetzt noch wenig über die inhaltliche Ausrichtung, die eigentlich Schwerpunkt der Debatte sein sollte, wie es auch die Philologen wollen. Dort wird das Thema Gleichwertigkeit, Bildungsgerechtigkeit und jetzt auch Ganztagsbetreuung genannt, aber zur Frage, wie sich das Gymnasium auch inhaltlich weiterentwickeln soll, habe ich bislang wenig vernommen. Wir möchten das Gymnasium weiterentwickeln, weil sich die Gesellschaft enorm weiterentwickelt hat, und damit die Schüler fit machen für ein Hochschulstudium und für Berufe, die ein sehr spezielles Wissen benötigen. Am Ende wollen wir ein klares Profil für die einzelnen Schulen mit klaren Zielen und transparenten Inhalten, damit Schüler und Eltern genau wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie sich für eine Schulform entscheiden.
Schulfrieden gilt gemeinhin als hoher Wert. Sorgen Ihre Vorstöße jetzt für einen neuen Schulstreit?
Nein, auf keinen Fall. Es geht uns hier ums Gymnasium. Wir möchten aber auch die Gemeinschaftsschule mit weitentwickeln. Dort ist ja bereits sehr viel passiert, beispielsweise das Projekt „Schule starkmachen", oder der Ausbau der Schulsozialarbeit. Jede Schulform profitiert von einer Profilschärfung der jeweils anderen. Wir wollen keinen Reset-Knopf drücken wie vor Jahren mit neuen Schulformen. Wir halten an den erfolgreichen Schulformen – Gemeinschaftsschule, Gymnasium und Berufsschulen – nicht nur fest; wir wollen sie auch stärken, und wir glauben, dass das mit klaren Profilen gelingt.