Wenn Appelle verpuffen, rückt der Corona-Lockdown näher
Haben wir nichts aus dem Corona-Lockdown im Frühjahr gelernt? Das soziale Leben gefror damals zu einer Art Schockzustand. Geschäfte schlossen. Restaurants verkauften Speisen und Getränke nur noch „to go". Kitas und Bildungseinrichtungen wurden verrammelt. Das Homeoffice verdrängte das Büro. Schulen und Unis stiegen auf Computer-Learning um. Die neue Langsamkeit zwang die Wirtschaft in die Knie. Die Konjunktur erlebte den größten Absturz seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber: Die Infektionszahlen gingen in den Keller.
Auslöser für diesen Kraftakt der Einschränkung in Deutschland waren nicht zuletzt die Horrorbilder aus der norditalienischen Stadt Bergamo. Vielen fuhr der Schreck in die Glieder, als sie die Militärlaster mit den Särgen der Corona-Opfer sahen, die aus den überfüllten Krematorien wegfahren mussten.
Diesen Preis des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stillstands will eigentlich niemand nochmals bezahlen. Umso unverständlicher ist es, dass es weder der Gesellschaft noch der Politik gelingt, das Virus in Deutschland nachhaltig zu bekämpfen. Denn nur so könnte man sich den Blick in den Lockdown-Abgrund ersparen.
Doch die Corona-Zahlen steigen und steigen. In Deutschland gibt es mehr als 400 Landkreise und kreisfreie Städte. Über 100 davon liegen oberhalb der kritischen Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Erinnern Sie sich noch an die Kappensitzung im nordrhein-westfälischen Gangelt im Kreis Heinsberg? Etliche der 300 Teilnehmer der feuchtfröhlichen Fastnachts-Veranstaltung im Februar steckten sich an. Es war die Geburt des ersten Corona-Hotspots der Republik.
Mittlerweile gibt es viele Gangelts im ganzen Land. Im bayerischen Landkreis Berchtesgadener Land wurden wegen explodierenden Infektionszahlen am Dienstag erstmals seit dem Lockdown im Frühjahr massive Ausgangsbeschränkungen verhängt.
Angesichts der ernsten Lage liefert die Politik eine jämmerliche Vorstellung. Der Corona-Gipfel zwischen Kanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche war ein elendes Gezerre. Dass Merkel intern vor zu laschen Maßnahmen warnte und dabei das schicksalhaft aufgeladene Wort „Unheil" benutzte, zeugt von ihrem immensen Frust.
Zu kritisieren ist, dass einige Länderchefs versuchten, aus dem Flickenteppich differierender Regelungen eine Tugend zu machen. Der Streit um das Beherbergungsverbot war der Gipfel der unerquicklichen Runde. Einige Ministerpräsidenten führten sich wie Regionalfürsten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Was sie übersehen: Das Virus kennt weder Städte- noch Ländergrenzen. Geschäftsleute oder Studenten fahren von Schleswig-Holstein nach Baden-Württemberg und umgekehrt. Familienfeiern haben oft Gäste aus ganz Deutschland. Kirchturmpolitik ist reine Ego-Show und bringt gar nichts. Nur einheitliche Standards, die zwischen Hamburg und München oder Düsseldorf und Berlin gelten, helfen weiter.
Die nach oben schießenden Infektionszahlen haben drei Gründe, die allesamt die Wahrung von Distanz verletzen. Es begann im Sommer mit den Urlaubsrückkehrern. Insbesondere Reisende, die nach der Teilnahme an großen Familienfesten im Kosovo oder in der Türkei nach Hause kamen, verbreiteten das Virus. Aber auch Hochzeiten und Geburtstagsfeten mit massenhaftem Publikum hierzulande erwiesen sich als Super-Spreader-Events. Und schließlich sind es die – in erster Linie – jugendlichen Partygänger, die sich anstecken und zur Gefahr für andere werden.
Wenn jeder mitmachen würde, wäre es einfach, das Virus zu kontrollieren. Maske tragen, Abstand halten und Hände waschen: So ließe sich die Infektionskurve deutlich abflachen. Doch der Egoismus einzelner hat die Bemühungen vieler konterkariert.
Appelle an die Eigenverantwortung haben das Virus nicht aufhalten können. Die Logik der Pandemie ignoriert Aufrufe, die verpuffen. Wenn Einsicht und Vernunft fehlen, steht zu befürchten, dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird. Es liefe auf einen erneuten Bergamo-Effekt hinaus. Sollte sich die Seuche weiter dramatisch ausbreiten und an irgendeinem Punkt für überfüllte Intensiv-Stationen sorgen, bleibe nur der Shutdown. Es wäre ein enorm hoher Preis – und ein Armutszeugnis für die Gesellschaft.