Dass Corona alle Bürger gleich betrifft, war von Anfang an wenig glaubwürdig. Im Gegenteil: Je mehr die Gesellschaft vom Virus in Mitleidenschaft gezogen wird, desto klarer werden die sozialen Ungerechtigkeiten. Besonders hart trifft die Pandemie die Einwanderer.
Die Integration der Einwanderer in die Gesellschaft galt in den vergangenen Jahren als Erfolgsgeschichte. Mit gewissem Recht. Regierungsnahe Forscher wie die Ökonomen des IAB, der Forschungsabteilung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, lieferten dazu zuletzt die entsprechenden Studien. Rund die Hälfte der seit 2013 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten oder Migranten hatte fünf Jahre später einen Job, so die Forscher. Geholfen hat dabei nicht nur ihr meist geringes Alter, sowie die Bemühungen von Staat und Gesellschaft, ihnen zu helfen, sondern vor allem die gute wirtschaftliche Konjunktur. Auch schlecht Ausgebildete hatten in den vergangenen Jahren eine gute Chance, einen Aushilfsjob im Handel oder in der Gastronomie zu finden. Man brauchte irgendwie jeden.
Dann kam Corona. Die Pandemie droht diese Fortschritte zunichtezumachen und hat das bereits zum Teil bereits geschafft. Migranten und ethnische Minderheiten sind von Corona deutlich stärker gefährdet als im Land Geborene. Das betrifft sowohl das gesundheitliche Risiko als auch das, den Arbeitsplatz zu verlieren. Besonders früh wurde das in Großbritannien erkannt, wo eine Studie zeigte, dass Einwandererfamilien aus Bangladesch ein doppelt so hohes Sterberisiko an Corona haben als Engländer. Bei anderen Einwanderergruppen lagen die Risiken immer noch zehn bis 50 Prozent höher. Nun hat die Regierung beschlossen, die ethnische Zugehörigkeit auf dem Totenschein zu vermerken und statistisch zu erfassen. Das soll helfen, die Ursachen besser zu verstehen. Die höhere Sterblichkeit von Migranten ist für die britische Regierung ein zentrales Thema. So hat eine Studie ergeben, es hätte im Frühjahr 60.000 Tote geben können, wenn die Sterblichkeit überall so hoch gewesen wäre wie unter den Einwanderern. Tatsächlich gab es bis Ende Juni rund 40.000 Corona-Tote im Vereinigten Königreich. Es wären also über die Hälfte mehr gewesen.
Migranten arbeiten oft an „vorderster Front"
Nun zeigt eine Untersuchung der OECD, des offiziellen ökonomischen Thinktanks der Regierungen der 30 wohlhabendsten Staaten der Welt, dass das allgemein gilt. „Migranten haben unter der Corona-Krise besonders zu leiden", sagte Stefan Liebig, Leitender Ökonom bei der Vorstellung des OECD-Migrationsausblicks. Zum einen sind sie „an vorderster Front." So sind in der Krankenpflege überproportional viele mit ausländischer Herkunft tätig. Hier ist das Risiko einer Corona-Erkrankung bekanntermaßen deutlich höher. „Das Infektionsrisiko liegt zwei- bis dreimal so hoch wie bei hier geborenen Deutschen." Auch die Sterblichkeit unter ihnen war im Frühjahr deutlich höher, nicht nur in Deutschland.
Die Gründe liegen nahe: Migrantenfamilien leben meist enger zusammen auf weniger Wohnfläche, sind mehr im ÖPNV unterwegs und arbeiten häufiger in systemrelevanten Berufen, wie Busfahrer oder Krankenschwester, oder in Berufen, die enge körperliche Nähe nötig machen. Homeoffice ist für sie meist nur eine schöne Utopie.
Migranten haben aber auch ein deutlich höheres Risiko, durch Corona und die vielen von Regierungen erlassenen Maßnahmen, sowie das veränderte Verbraucherverhalten selbst, arbeitslos zu werden. In der Gastronomie sind in Deutschland rund 40 Prozent der Beschäftigten ausländischer Herkunft, etwa doppelt so viele wie in der Durchschnittsbevölkerung. Ähnliches gilt für die selbstständigen Gastronomen und Kneipenwirte, die zu einem ähnlich hohen Prozentsatz Migranten sind. Hier ist die Kapitaldecke besonders dünn. Das heißt, sie können eine Corona-Durststrecke viel schlechter wegstecken als andere. Schon jetzt zeigt sich, dass die Arbeitslosigkeit unter Migranten stärker gestiegen ist als im allgemeinen Schnitt. Das dürfte sich in den kommenden Wochen noch deutlich verschärfen, wenn die wirtschaftliche Situation der Gastronomie zu Entlassungen und Insolvenzen führen wird.
Von Schulschließungen sind Kinder aus Migrantenfamilien ebenfalls besonders betroffen, weil sie den Präsenzunterricht besonders brauchen. Wenn Unterrichtsstunden nach Hause verlegt werden, fallen sie schneller zurück, weil sie oft schlechtere Bedingungen vorfinden und zu Hause oft nicht Deutsch gesprochen wird. In 85 Prozent der Zuwandererfamilien wird zu Hause primär kein Deutsch gesprochen, so Liebig, was nicht unbedingt überraschend ist.
Das schafft akut Probleme, wenn die Kinder in der Schule nicht mehr mitkommen. Es schadet den Kindern aber auch langfristig, wenn sie zurückfallen, weil es potenziell ihre Berufsaussichten schmälert. In Frankreich gab es zuletzt das große Problem, dass viele Kinder aus Migrantenfamilien nach den Sommerferien gar nicht erst im Unterricht erschienen, berichtet Liebig. Offenbar war nicht immer einfach zu vermitteln, dass Homeschooling nicht das Ende der Schulpflicht bedeutet.
Die Pandemie bedroht die Fortschritte der vergangenen Jahre und gefährdet die Chancen der zuletzt neu Zugewanderten besonders, darunter etwa die seit 2015 aus den Kriegsregionen des Nahen Ostens Geflüchteten.
Theoretisch sieht die Bundesregierung das auch so und setzt als Antwort voll auf Digitalisierung. Auf dem zwölften Integrationsgipfel betonte die Bundeskanzlerin (per Webkonferenz), wie wichtig die Digitalisierung bei der Integration sei. Die Pandemie habe besondere Auswirkungen auf die Integrationsarbeit. Dabei sei der Anfang, die ersten Monate und Jahre nach der Ankunft entscheidend. Und hier biete die Digitalisierung Chancen für die Erstintegration und Eingliederung. „Es hat sich vor dem Hintergrund der Pandemie gezeigt, wie wichtig es ist, Integrationsangebote auch digital zur Verfügung zu stellen", sagte Merkel. Allerdings ist (nicht nur) von Lehrern immer wieder zu hören, dass digitale Technik den realen Kontakt nicht ersetzen kann – gerade beim Lernen einer Sprache.
Die Pandemie bedroht, was bisher erreicht wurde
Die Corona-Krise erschwert somit das Leben derjenigen, die – legal oder illegal – bereits zugewandert sind. Sie bedeutet aber auch, dass in der aktiven Migration „die Karten ganz neu gemischt werden", so Liebig. „Wir sehen in diesem Jahr einen historischen Rückgang der Migration." Es seien im zweiten Quartal in den Ländern der OECD 70 Prozent weniger Aufenthaltsgenehmigungen erteilt worden als zuvor. Generell sinkt in den OECD-Ländern das Interesse an Arbeitskräften aus dem Ausland drastisch, was die wirtschaftlichen Chancen der Zuwanderer weiter reduziert.
Eine ganz andere Sache ist, ob die Corona-Krise auch die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Einwanderern verändern wird. Dass Einwanderung in der deutschen Öffentlichkeit zuletzt generell recht positiv gesehen wurde, liegt sicherlich auch am hohen Bedarf an Arbeitskräften, von Gastronomie bis Altenpflege. Das könnte sich bei verschärften sozialen Spannungen auch wieder ändern. So warnen die Experten der OECD: „Es gibt das Risiko eines Rückschlages der öffentlichen Meinung gegen Immigranten."
Dabei macht derzeit eine weitere Corona-Maßnahme den Migranten das Leben schwer: Dadurch, dass die Fluglinien einen Großteil der Flüge zusammengestrichen haben, weil die jeweiligen Testpflichten beim Grenzübertritt jede Planung durcheinanderbrachte, wird die regelmäßige Reise in die alte Heimat praktisch unmöglich. Generell sind Migrantenfamilien mehr auf internationale Reisemöglichkeiten angewiesen als die Durchschnittsbevölkerung. Für sie sind die Flüge nicht Urlaubsvergnügen, sondern oft schlicht eine emotionale Notwendigkeit.