Auch ein Präsident Biden würde keine neue transatlantische Ära einläuten
Meinungsumfragen sind Momentaufnahmen. Sie geben Stimmungen wieder, nehmen aber keine Wahlentscheidungen vorweg. Und überhaupt: Lagen nicht sämtliche Erhebungen vor der US-Präsidentschaftswahl 2016 daneben? Sah die demokratische Kandidatin Hillary Clinton nicht wie die sichere Siegerin gegen den rüpelhaften Republikaner Donald Trump aus?
Der Fairness halber muss man sagen: Die Umfragen stimmten damals insofern, als Hillary auf nationaler Ebene – beim „popular vote“ – drei Millionen mehr Stimmen erhielt als Trump. Doch darauf kommt es im amerikanischen Wahlsystem nicht an. In entscheidenden Bundesstaaten wie Florida, Pennsylvania oder Michigan lag Trump am Ende vorn, wenn auch äußerst knapp. Die Befragungen hatten darauf kaum Hinweise gegeben – zum Teil, weil sie im Vergleich zu den heutigen Messungen erhebliche wissenschaftliche Mängel hatten. So waren zum Beispiel weiße Männer, eine Kernklientel von Präsident Trump, unterrepräsentiert.
Heute, wenige Tage vor dem Urnengang am 3. November, ist der Umfragen-Trend anders. Die unabhängige Nachrichten-Website realclearpolitics.com hat ermittelt: Der demokratische Herausforderer Joe Biden steht nicht nur bei der Summe aller landesweiten Stimmen mit rund acht Prozentpunkten im Plus. Auch in wichtigen Bundesstaaten wie Michigan (plus 9,0 Prozentpunkte), Wisconsin (plus 5,5) oder Arizona (plus 2,4) ist er auf dem aufsteigenden Ast.
Biden hat im Vergleich zu Hillary eine Reihe von Vorteilen. Die Demokratin plagte ein tief sitzendes Image-Problem. Sie war unpopulär, galt als hyper-ehrgeizig und zu verwachsen mit dem Finanz-Kapitalismus der Wall Street. Hillary stand im Ruf, eine typische Vertreterin des Washingtoner Polit-Establishments zu sein, das von vielen US-Bürgern verachtet wird. Trump konnte sich diese weit verbreiteten Ressentiments 2016 zunutze machen: Er fuhr auf dem Ticket des Außenseiters, der der politischen Klasse so richtig den Marsch bläst.
Biden genießt hingegen parteiübergreifend Ansehen. Er polarisiert nicht, sondern verkörpert den Typ „netter älterer Herr“ mit Empathie. Das ist vielleicht seine größte Trumpfkarte gegenüber Hillary 2016 – und gegenüber Trump 2020. Der Bulldozerkurs des Präsidenten, der Frontal-Attacken gegen Freund und Feind reitet, elektrisiert zwar die republikanische Basis. Doch gleichzeitig verprellt Trump wichtige Wählersegmente wie Frauen, Unabhängige, gemäßigte Vorstädter, Latinos und Farbige. Zudem stößt sein katastrophales Management der Corona-Krise viele Senioren ab. Diese hatte Trump 2016 noch für sich gewinnen können, doch in der Pandemie gehören sie zu den Risikogruppen und laufen in Scharen davon.
Biden verfügt noch über ein weiteres Pfund. Hillary hatte nicht die volle Rückendeckung ihrer Partei. Sie galt als Vertreterin eines Mittekurses, den Galionsfiguren der Linken wie Bernie Sanders als Verrat ansahen. Sanders wollte eine allgemeine Krankenversicherung und kostenlose Bildung für alle. Moderaten Demokraten geht das zu weit, weil sie es für unfinanzierbar halten.
Biden hat das Kunststück fertiggebracht, alle Parteiflügel hinter seiner Kandidatur zu vereinen. Der Schlachtruf „Trump muss weg“ genügt. Der konservative Journalist David Frum, Redenschreiber unter Präsident George W. Bush, prophezeit: „Sollte Biden gewinnen, beginnen seine Probleme am Tag nach seiner Amtseinführung.“ Und: „Es ist, als ob er eine prallvolle Einkaufstüte auf den Küchentisch knallt: Da fällt einiges heraus, was sich andere Leute schnappen.“ Frum meint damit, dass Teile der großen Anti-Trump-Koalition nach einem eventuellen Wahlsieg Forderungen geltend machen werden.
Dass ein Präsident Joe Biden ein neues transatlantisches Zeitalter einläuten wird, darf man bezweifeln. Der Umgang mit den europäischen Verbündeten dürfte zwar zivilisierter werden. „Aber er würde ein tief gespaltenes, schwer verwundetes Land übernehmen“, sagt ein hochrangiges Mitglied der Bundesregierung voraus. „Um die 45 Prozent Trump-Wähler zu integrieren, müsste er Zugeständnisse machen.“ Dazu gehörten etwa protektionistische Maßnahmen zum Schutz der amerikanischen Wirtschaft. Oder der Druck auf die Nato-Mitglieder, mehr für die eigene Verteidigung auszugeben. Anders formuliert: Ein Stück Trumpismus bliebe auch unter Biden erhalten.