Das Naturschutzgebiet Anklamer Stadtbruch zwischen der Peenemündung und dem Stettiner Haff im Nordosten von Vorpommern ist eines der letzten Wildnisgebiete in Deutschland. Hier bringt Günter Hoffmann als Naturführer Besuchern die Schönheit der Landschaft und ihrer Bewohner näher.
Jeden Tag noch vor dem Sonnenaufgang rüstet sich Günther Hoffmann mit Teleskop, Fernrohr, Spektiv und zieht in die wilde Moorlandschaft des Anklamer Stadtbruchs. Eine mystische Atmosphäre erfüllt die frühe Dämmerung. Über den taunassen Wiesen liegt ausgebreitet ein Schleier aus zartem Nebel. Über ihm der weite Himmel mit den täglich wechselnden Wolkenformationen. Um diese Zeit fliegen laut trompetend und dicht an dicht Tausende große, graue Vögel auf die Wiesen neben den Rinderweiden. Die Kraniche des Glücks tanken frische Energie, picken mit dem Schnabel das eigens für sie ausgelegte Futter aus dem feuchten Boden. Das Naturschutzgebiet zwischen der Peenemündung und dem Stettiner Haff im Nordosten von Vorpommern ist eines der letzten Wildnisgebiete in Deutschland.
„Der nahende Sonnenaufgang mit der einzigartigen Lichtstimmung ist ein sehr intimes Erleben", sagt Günther Hoffmann. Am liebsten sei er ganz allein in der Natur. „Das macht mein Herz frei." Was er in den Stunden des beginnenden Tages empfinde, lasse sich nur schwer in Worte fassen. Diese besondere Zeit, wenn der Tag erwacht, sei tief berührend, meint der Naturführer mit dem langen grauen Haar, das bis auf seine Schultern fällt. Sein Hut droht ihm ständig vom Kopf zu fliegen. Blitzschnell fängt er ihn wieder. Günther Hoffmann hat Routine im Spiel mit dem Wind, der kraftvoll die wogenden Schilfflächen am Rande schmaler lang gezogener Bachläufe und der Flachseen des Peenetals durchweht. Inmitten dieser dicht gewachsenen Schilfgürtel, von Ackerwinden umrankt, ertönt ein einziges Tschilpen, Ziepen, Zwitschern. Hier sind Schwalben, Sperlinge, Spechte, Meisen und andere Singvögel beheimatet. Die Flachgewässer bieten als Brutstätte auch unzähligen Wat- und Wasservögeln, Zehntausenden von nordischen Gänsen, Enten, Schwänen und Limikolen ein wertvolles Rastgebiet. „Die Artenvielfalt hat extrem zugenommen. An die 170 Vogelarten brüten hier", berichtet Günther Hoffmann. Dabei scheint es, dass er jeden Vogel persönlich und mit Namen kennt, als habe er sie alle schon gesehen. Kranich, Kormoran, Moorfrosch, Zwergschnapper, Karmingimpel, Tüpfelsumpfhuhn und Wendehals leben hier nahezu ungestört. Die an die 1.900 Hektar umfassende Wildnis aus Moorwäldern, Röhrichten, Weiden und Flachsen ist ein Paradies auch für Biber und Fischotter. „Dort – ein Seeadler!", ruft der Naturführer begeistert. In erhabener Stellung aufgebäumt auf dem höchsten Wipfel im toten Baumgeäst thront der König der Lüfte. Der Seeadler ist der größte Greifvogel Europas. Der Bau des Adlerhorstes sei eine ingenieurtechnische Höchstleitung. Und es sei erstaunlich, wie sich der majestätische Vogel nach der einstigen, fast vollständigen Ausrottung seine Natur zurückhole, sich wieder vermehrt und verbreitet. „Hier im Peenetal besteht die höchste Dichte an Seeadlern in Deutschland." Charmant und heiter berichtet der Mann mit den Adleraugen von seinen Tierbeobachtungen. „Oh, was ist das", fragt er augenzwinkernd und weist auf Spuren eines Otterwechsels auf dem Schotterweg hin. Die Otterpopulation habe hier deutlich zugenommen. Zwei, drei Meter weiter entdeckt er eine Spur von Wildschweinen.
Er ließ sein altes Leben hinter sich
25 Jahre ist es her, dass Günther Hoffmann aus Garmisch-Partenkirchen, mit ein paar Jahren Zwischenstation in Westberlin in das kleine Dorf Bugewitz, am Rande des Anklamer Stadtbruches kam. Es war reiner Zufall. Ein guter Freund, der sich preisgünstig dort ein Haus kaufte, schwärmte von dieser Gegend. Günther Hoffmann besuchte ihn und war sofort angetan von der einzigartigen Schönheit der beinah noch „unberührten" Natur. Damals arbeitete er noch als Produktionsleiter am Renaissancetheater und am Schillertheater. Es fiel ihm nicht schwer, sein altes Leben in der Großstadt hinter sich zu lassen. Der Anfang in Bugewitz war unkompliziert. Der oberbayerische Fremde trat sofort der freiwilligen Feuerwehr bei und dem Kreiselternbeirat. Damit konnte er bei den Landbewohnern punkten. Sie nahmen ihn schnell an. Dass er einmal dörfliche Traditionen mit pflegen würde, hätte sich der einstige Aktivist in der Westberliner Hausbesetzerszene nicht träumen lassen. Im Peenetal fand er rasch ein neues Betätigungsfeld. Zunächst 15 Jahre politische Erwachsenenbildung. Seit der Wende engagierte er sich in der Initiative „Bunt statt Braun" gegen Neonazis und antidemokratische Tendenzen, leitete mehrere Jahre das Netzwerk „Anklam gegen Rechtsextremismus", organisierte Demos, Festivals und Kampagnen. Und er beriet als Rechtsextremismus-Experte die Landesregierung sowie Kommunen. Günther Hoffmann fühlte sich in die Lebenslage und Nöte der Landbewohner ein. Die Anfeindungen und Pöbeleien durch die NPD schreckten Günther Hoffmann nicht ab. „Allerdings für meine persönliche Psychohygiene gewöhnte ich mir an, täglich in die Natur rauszugehen. Wenn ich Stunden später zurückkehre, bin ich so tiefenentspannt, da kann einem nichts mehr passieren." Obwohl er sich schon immer gern im Freien aufhielt, verfügte er kaum über Kenntnisse der Flora und Fauna. „Es war dieses Nichtwissen, das mich motivierte, mich intensiver mit der einzigartigen Schönheit dieses Landstriches zu beschäftigen. So entstand der Beruf des Natur- und Wanderführers."
Eine Stille, die man hören kann. Im Kanu, Kajak oder Solarboot auf der Peene. Das bedeute für Hoffmann innere Einkehr. Beinahe unmerklich windet sie sich am Abend entlang der Flusslandschaft Peenetal, dem Amazonas des Nordens, wie man hier sagt. Das zugewucherte Ufer mutet wie ein Urwald an. Eine Flusslandschaft, die in Deutschland ihresgleichen sucht. Die Peene ist einer der letzten unverbauten Flüsse Deutschlands. Ringsum Heidefläche, naturbelassene Abschnitte der Haffküste. Und auch hier leben eine Vielzahl besonders geschützter und vom Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten.
Sein Lieblingsvogel ist die Bartmeise
Zuweilen sieht der Naturliebhaber Eichhörnchen oder Mäuse über die Peene schwimmen. Ein Silberreiher taucht plötzlich im dichten Gestrüpp am Ufer auf und am Himmel breitet ein Adler seine Schwingen aus, gleitet über die Flusslandschaft. „Alles extra bestellt", flüstert Günther Hoffmann verschmitzt. Die Biber zeigen sich meist erst in der Abenddämmerung, oft auf dem platt gewalzten Schilf, von dem aus sie ins Wasser tapsen. Das Peenetal ist die Heimstatt unzähliger Libellen, Nacht- und Tagfalter, wie des europaweit geschützten Großen Feuerfalters, der hier noch zu bewundern ist, und zahlreicher Vogelarten.
Langsam wird es dunkel. Günther Hoffmann legt sein Fernrohr zur Seite. Der liebste Vogel sei ihm die Bartmeise mit dem auffälligen schwarzen Bart und den hellen Augen. „Wenn ich sie in Schwärmen fliegen sehe, geht mir das Herz auf. Ich liebe ihren Gesang, dieses zarte, charakteristische Tschilpen." Die Bartmeisen leben in sozialen Verbänden. Das Weibchen brütet allein und wird in dieser Zeit vom Männchen mit Nahrung versorgt. Die Jungen bleiben etwa zwei Wochen lang Nesthocker und lassen sich von den Eltern mit Insekten, Larven, Würmern oder Spinnen füttern. „Wenn sie flügge werden, muss es in die Freiheit gehen", betont Hoffmann. „So wie wir Menschen Trennungen schwer verwinden, geht es auch den Tieren. Doch die Gesetze der Natur zwingen dem Nachwuchs zu Eigenständigkeit, um ihnen so das Überleben zu ermöglichen." Der Guide erinnert sich, wie er selbst darunter litt, als seine Tochter das Elternhaus verließ. „Das war keine einfache Zeit. Doch in der Natur fand ich Trost und konnte loslassen." Die Landschaft den Menschen nahezubringen, und den Balanceakt, dass nachhaltiger Tourismus und Naturschutz funktionieren kann, mache den Reiz seiner Arbeit aus. Noch ist es möglich, bei einer Bootstour auf der Peene tagelang niemandem zu begegnen.
Günther Hoffmann bietet das ganze Jahr über individuelle Touren an. „Ich empfinde eine große Dankbarkeit, dass ich hier in dieser Idylle sein darf. Wenn wir weiter auf diesem Erdball leben wollen, müssen wir die Mechanismen, die in der Natur ablaufen, verstehen lernen, Fakten zur Kenntnis nehmen und uns in der Seele berühren lassen."