Union Berlin schießt sich vor der Länderspielpause auf einen Europa-League-Platz und muss plötzlich Fragen beantworten, ob das Saisonziel Klassenerhalt noch zeitgemäß sei.
Die Frage war zugegebenermaßen etwas frech, doch die Unioner ließen sich nicht aus der Fassung bringen. Ob sie sich bei Max Kruse schon erkundigt haben, wie sich denn Champions-League-Spiele anfühlen, wurden die Profis und der Trainer nach dem vorübergehenden Sprung auf Platz vier in der Bundesliga-Tabelle von einem Reporter gefragt. „Nee, so weit sind wir noch nicht", antwortete Kapitän Christopher Trimmel und winkte ab. Chefcoach Urs Fischer betonte mit gewohnt stoischer Gelassenheit: „Wir haben eine Zielsetzung, die ist noch lange nicht erreicht: der Klassenerhalt."
Für viele klingen solche Sätze spätestens nach dem höchsten Bundesligasieg der Clubgeschichte nach Understatement. Union Berlin trug beim in vielerlei Hinsicht überzeugenden 5:0-Heimsieg gegen Aufsteiger Arminia Bielefeld die Züge eines Spitzenteams. „Ich würde sagen, dass es ein fast perfektes Spiel von uns war", gab auch Trimmel zu. „Wir haben sehr viel richtig gemacht. Wir standen kompakt und haben die Angriffe sehr gut zu Ende gespielt."
Was denn noch bis zur Perfektion gefehlt habe, wurde Fischer nach dem Schlusspfiff gefragt. Schmunzelnd antwortete der Trainer: „Ich suche jetzt nicht danach, was gefehlt hat." Er schaue sich lieber „die Dinge an, die gut geklappt haben", betonte der Schweizer. „Und wenn man 5:0 gewinnt, müssen viele Dinge gut geklappt haben." Man sei „von Beginn weg" dominant, „über die Außen gefährlich" und „sehr effizient" gewesen, lobte Fischer.
„Zielsetzung noch lange nicht erreicht"
Eine Sache freute den Schweizer besonders: Union ließ trotz der beruhigenden Führung gegen überforderte Bielefelder zu keiner Zeit des Spiels nach. „Ich bin sehr zufrieden, dass die Mannschaft über 90 Minuten nie die Organisation verloren hat", sagte Fischer. Der 54-Jährige berichtete ein Detail von der Halbzeitansprache, die viel über den Hunger und den Willen im Team verrät: „Wir haben uns zur Pause gesagt: ‚Es geht ums dritte und vierte Tor, und wir wollen kein Gegentor kassieren!‘" Solche Sätze fallen eigentlich nur bei Spitzenteams.
„Am Ende war das ein überragender Sieg mit einer richtig geilen Leistung", schwärmte Robert Andrich, Torschütze zum 2:0. Auch Trimmel genoss es sichtlich, auf einem Europacup-Platz liegend in die Länderspielpause zu gehen. „Natürlich ist das schön, das ist eine sehr gute Entwicklung", sagte der Österreicher, der genau wie der Finne Joel Pohjanpalo zum Nationalteam eingeladen wurde, „aber die Schwierigkeit ist, es so weiterzumachen." Auch Fischer warnte in der Stunde des Triumphs vor dem „langen und harten Weg", der noch vor Union liege, um den Klassenerhalt perfekt zu machen: „Mit zwölf Punkten werden wir unsere Zielsetzung nicht erreichen."
Mit einem Max Kruse in der aktuellen Form aber ganz sicher. Der frühere Nationalspieler, der vor der Saison ablösefrei aus der Türkei nach Köpenick gewechselt war, entpuppt sich immer mehr als absoluter Glücksgriff. Gegen Bielefeld war der 32-Jährige – genau wie schon eine Woche zuvor bei der TSG Hoffenheim (1:3-Auswärtssieg) – an drei Treffern direkt beteiligt: zwei legte er mustergültig auf und einen erzielte er selbst. Auch beim 1:0-Führungstreffer durch Keita Endo hatte Kruse mit einem genialen Pass auf Vorlagengeber Sheraldo Becker maßgeblich seine Füße im Spiel. „Einfach Fußball gespielt…", schrieb der Angreifer hinterher auf Instagram und versah den Kommentar mit einem Zwinkersmiley. Die Zweifel, ob der absolute Instinktfußballer Kruse und das mannschaftlich geschlossen agierende Team zusammenpassen, haben sich zerstreut. „Wir haben gesehen, dass beide voneinander profitieren: die Mannschaft von Max, aber auch Max von der Mannschaft", sagte Fischer. Kruse spüre die Unterstützung, „die ein Spieler seiner Qualität braucht", erklärte der Trainer. „Auf der anderen Seite ist er sich nicht zu schade, auch lange und weite Wege in Kauf zu nehmen." Derzeit sei es „ein Geben und Nehmen", beschrieb Fischer die Abläufe zwischen dem sehr individuell agierenden Kruse und seinen Mitspielern, die sich größtenteils ans taktische Konzept halten. „Im Moment profitieren beide Seiten voneinander", so Fischer. „Jetzt müssen wir schauen, dass wir das so beibehalten."
„Im Moment profitieren beide Seiten voneinander"
Denn Fakt ist auch: Nur im Erfolgsfall werden die Mitspieler Kruses läuferische Defizite und seine Eskapaden abseits des Platzes tolerieren. Vor dem Spiel gegen Bielefeld sorgte der Exzentriker erneut für Wirbel, nachdem er schon wegen einer Poker-Party mit wildfremden Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie einen Rüffel von der Teamleitung kassiert hatte. Kruse war mit dem Auto in eine Geschwindigkeitskontrolle der Polizei getappt, die Beamten stellten ein für die 30er-Zone zu hohes Tempo fest. Kruse machte seinem Ärger später auf Instagram Luft: „Sorry, aber fünf Meter nach einem Schild einen Blitzer hinzustellen, ist schon stark asozial." Das Foto war zudem versehen mit dem Wort „Schweine". Die Aufregung im Netz war groß, nahezu alle Medien griffen das Thema auf. Und die Union-Verantwortlichen mussten sich mal wieder zu einer Aktion von Kruse äußern, die sie nur schwer beeinflussen können. „Ich wüsste nicht, was das für uns für eine Rolle spielen sollte", sagte Clubsprecher Christian Arbeit. „Das hat für uns überhaupt keine Bedeutung." Auch Fischer wollte den Vorfall nicht zu hoch hängen, schließlich hatte sich Kruse kurz nach seinem verbalen Fehltritt öffentlich entschuldigt, „auch das zeigt seine Klasse", so Fischer.
Die spielerische Klasse bewies Kruse gegen Arminia. „Es war nicht so, dass uns nicht bekannt ist, dass er ein herausragender Spieler ist", sagte Bielefelds Trainer Uwe Neuhaus angefressen. Der 60-Jährige ist nach wie vor Unions Rekordtrainer (2007 bis 2014), doch seine Rückkehr an die alte Wirkungsstätte geriet zum Desaster. Es war „die absolut schlechteste Leistung, seit ich da bin", kommentierte Neuhaus, der in der Halbzeit nicht nur drei, sondern „am liebsten die ganze Mannschaft ausgewechselt" hätte: „Weil keiner zur Normalform gefunden hat."
Das ist auch als Kompliment für Union zu verstehen. Der fast perfekte Rekordsieg wurde lediglich durch den Ausfall von Marius Bülter getrübt. Der Offensivspieler wurde positiv auf das Coronavirus getestet und musste sich in häusliche Quarantäne begeben. Ob der 27-Jährige im Auswärtsspiel am 22. November beim 1. FC Köln auflaufen kann, ist ungewiss. Fakt aber ist, dass Union bei den noch sieglosen Kölnern als Favorit auflaufen wird. Bei einem weiteren Sieg dürften die Fragen nach dem Europacup zumindest nicht weniger werden.