Exzessives Komasaufen bei Jugendlichen ist rückläufig. Alkohol wird dennoch oft und meist zu viel konsumiert. Besonders bei jungen Menschen ist das nicht ungefährlich. Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Andreas Niethammer im Interview.
Herr Dr. Niethammer, eine Party ohne Bier oder Mixgetränke ist für viele Jugendliche langweilig. Werden mindestens fünf Gläser Alkohol bei einer Gelegenheit getrunken, spricht man von Rauschtrinken. Wie groß ist das Problem?
Der Alkoholkonsum und auch das exzessive Komasaufen sind rückläufig. Junge Leute im Vollrausch sieht man heute seltener in der Öffentlichkeit. Das Problem ist aber nicht verschwunden. Jährlich werden alleine im Saarland knapp 400 Jugendliche mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Zum Höhepunkt der Welle 2013 waren es etwa 500 Fälle. Durchschnittlich kommt der Nachwuchs mit 13 bis 14 Jahren erstmals mit Alkohol in Kontakt. Ganz verhindern lässt sich der Alkoholmissbrauch wohl nie. Es liegt in der Natur der Jugend, risikobeladenes Verhalten auszuprobieren. Klar ist aber auch: Wer schon in jungen Jahren regelmäßig trinkt, steigert die Gefahr, abhängig zu werden.
Wie schädlich ist Alkohol für Jugendliche?
Der Alkohol wird in ihrem Körper langsamer abgebaut als im Erwachsenenalter, die Leber ist noch nicht so leistungsfähig. Vor allem das Gehirn, das in der Pubertät umgebaut wird, ist durch das Zellgift gefährdet. Außerdem hat Alkohol viele Kalorien, er trägt zu Übergewicht bei. Wobei Mädchen deutlich weniger vertragen als Jungs, die gleiche Menge wirkt bei ihnen stärker – wegen des geringeren Körpergewichts und des höheren Fettgewebeanteils. Junge Frauen, die schwanger sind, tragen nicht nur Verantwortung für ihren eigenen Körper. Für sie gilt: Bei jedem Schluck der Mutter trinkt das ungeborene Kind mit.
Sollten Frauen in der Schwangerschaft überhaupt keinen Alkohol trinken?
Keinen Tropfen! Über die Nabelschnur gelangt der Alkohol ins Blut des ungeborenen Kindes. Dort verbleibt er fast zehnmal länger als im mütterlichen Blut. Es drohen irreparable Schäden. Jede Stunde wird in Deutschland mindestens ein alkoholgeschädigtes Kind geboren. Wobei die Dunkelziffer hoch ist. Die betroffenen Jungen und Mädchen sind oft untergewichtig, haben einen zu kleinen Kopf und typische Auffälligkeiten im Gesicht. Außerdem ist Alkoholkonsum in der Schwangerschaft die häufigste Ursache für eine geistige Behinderung. Besonders die Exekutivfunktionen, mit denen der Mensch sein eigenes Verhalten steuert, sind gestört. Lebenslang bekommen diese Menschen ihr Leben nicht auf die Reihe. Die Schädigungen können schon in den ersten Embryonalwochen entstehen – also bevor die Frau weiß, dass sie schwanger ist. Deshalb rät die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF), keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, sobald die Verhütung wegen Kinderwunsch abgesetzt wurde oder eine mögliche Verhütungspanne eingetreten ist. Wir wissen nicht, ab welcher Menge es problematisch wird. Vielleicht reicht schon eine Schnapspraline. „Kein Schluck, kein Risiko!", lautet die Empfehlung. Hält sich die Schwangere daran, ist dieses Schicksal zu 100 Prozent vermeidbar.
Irgendwann trinken praktisch alle Jugendliche das erste Mal Alkohol. Gibt es Tipps für einen verantwortungsvollen Umgang?
Wenn man etwas gegessen hat, gelangt nicht so viel Alkohol in den Körper und die Aufnahme ist verlangsamt. Ich rate zu niedrigprozentigen Getränken, etwa zu Radler oder Cola-Bier. Wenn Süßgetränke mit hochprozentigen Spirituosen gemischt werden, schmeckt man den Al-kohol kaum heraus. Das erschwert den Umgang. Langsam trinken – und mindestens so viel Wasser wie Alkohol. Wer sich hinters Steuer setzt, sollte gar nichts trinken. Alkohol enthemmt und senkt die Reaktionsfähigkeit. Katastrophale Unfälle sind dann vorprogrammiert. Übrigens gibt es immer mehr figur- und gesundheitsbewusste Jugendliche, die völlig auf Alkohol verzichten, da sehe ich eine ähnliche Entwicklung wie beim Rauchen.
Sind Sie für eine Null-Promille-Grenze im Straßenverkehr?
Ja, ein Alkoholverbot am Steuer wäre sinnvoll. Schon ab 0,2 Promille nimmt die Reaktionsfähigkeit deutlich ab. Und bei 0,5 Promille ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls bereits doppelt so hoch wie im nüchternen Zustand. Auch in anderer Hinsicht ist der Gesetzgeber gefordert. An Jugendliche unter 18 Jahren sollte kein Alkohol verkauft werden dürfen. Aktuell liegt die Altersgrenze für Bier, Wein und Sekt bei 16 Jahren. Außerdem ist Alkohol bei uns viel zu billig, eine Flasche Wodka bekommt man schon für fünf Euro.
Und wenn es doch zum Komasaufen kommt?
Wacht der Jugendliche nach einem Alkoholexzess im Krankenhaus auf, ist es wichtig, dass die herbeigerufenen Eltern die Situation nicht verharmlosen. Sie sollten nicht aus Scham darauf verzichten, professionelle Hilfe anzunehmen. Jugendärzte und Beratungsstellen bieten Unterstützung an. Ein Beispiel: „Die Brigg" der Caritas in Neunkirchen hilft jungen Leuten mit Alkoholproblemen.
Wie können Väter und Mütter noch helfen?
Sie können sinnvolle Freizeitgestaltungen fördern und zeigen, dass man zum Fröhlichsein keinen Alkohol braucht. Außerdem sollten sie darauf achten, mit wem der Nachwuchs unterwegs ist und gegebenenfalls einschreiten. Klare Regeln zum Umgang mit Alkohol sind nützlich. Vorbeugend wirkt, wenn Väter und Mütter Anteil am Leben des Sohnes oder der Tochter nehmen. Das Kind sollte nicht den Eindruck haben, den Eltern sei es egal, was es macht. Ganz wichtig ist die Vorbildfunktion der Erwachsenen. Auch beim Thema Alkohol gilt die bekannte Weisheit: Es hat keinen Sinn, Kinder zu erziehen, sie machen uns doch alles nach.
Wer ist neben dem Gesetzgeber und den Eltern noch gefordert?
Festveranstalter können vorbeugen und nach Ausweiskontrollen vor dem Bierzelt je nach Alter verschiedenfarbige Armbänder verteilen. Dann ist klar, wer Alkohol bekommt und wer nicht. Auch Aufklä-rungsarbeit in Schulen ist wichtig. Und in den Vereinen sollten Jugendschutzbeauftragte darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden. Außerdem sollte die Gesellschaft umdenken. Im Gegensatz zu Zigaretten ist der Alkohol noch immer überall präsent. Wer bei Festen nichts trinkt, muss sich oft rechtfertigen. Willst du abnehmen? Bist du schwanger? Und beim Straßenkarneval bekommt man den Alkohol praktisch nachgeworfen. Alle erwarten, dass man Alkohol trinkt. Und alle erwarten, dass man den Konsum im Griff hat. Das ist aber nicht bei jedem der Fall. 60.000 bis 70.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich an den Folgen des Alkoholmissbrauchs.