Weil sich immer mehr Menschen sanfte Therapien wünschen, boomen homöopathische Mittel. Viele Wissenschaftler halten die Homöopathie jedoch für eine Scheinmedizin. Mittlerweile ist der Streit zum Politikum geworden.
Sie ist die wohl bekannteste Gegnerin der kleinen weißen Kügelchen: Nathalie Grams war 22 Jahre alt, mitten im Medizinstudium und wollte Chirurgin werden, als ein Autounfall diese Pläne durcheinanderwirbelte. Noch Monate nach dem Unfall litt sie an Herzrasen und an wiederkehrenden Ohnmachtsanfällen. Kein Arzt fand eine Erklärung, bis Grams eine Heilpraktikerin aufsuchte, die zu Homöopathie und Psychotherapie gegen die Spätfolgen des Unfalls riet. Das Ergebnis: Die Symptome verschwanden, und ihr Weg in die Homöopathie war geebnet. Sie begann eine Zusatzausbildung in Homöopathie und Traditioneller Chinesischer Medizin. Anschließend eröffnete sie eine homöopathische Praxis im Raum Heidelberg, die gut lief und von zufriedenen Patienten gern besucht wurde. Rückblickend schreibt sie über den Autounfall in ihrem aktuellen Buch „Was wirklich wirkt – Kompass durch die Welt der sanften Medizin", es sei ihre „homöopathische Erweckung" gewesen. Das Buch allerdings ist keine Ode an die Homöopathie. Denn Krams ist zur Kritikerin der Kügelchen geworden. Ausschlaggebend dafür war das 2012 erschienene Buch „Die Homöopathie-Lüge" der Wissenschaftsjournalisten Christian Weymayr und Nicole Heißmann, in dem sie zu dem Schluss kommen, die Homöopathie sei teuer, wirkungslos, wecke falsche Hoffnung und verhindere im schlimmsten Fall echte Therapien. Grams, so schildert sie selbst gegenüber dem österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil", war wütend darüber, wie Ahnungslose eine bewährte Therapie verhöhnten. Sie begann, selbst zu recherchieren und nach Beweisen für die Wirksamkeit zu suchen. Als sie nichts fand, das ihr als haltbar erschien, sei ihre Welt implodiert. Sie kehrte der Homöopathie den Rücken, gründete das „Informationsnetzwerk Homöopathie" und wurde zur Reizfigur der Szene. Es folgten Beschimpfungen, Hassbotschaften und Klagen. Unter anderem weil Grams immer wieder deutlich machte, dass Homöopathie aus ihrer Sicht keine Wirkung habe, die über den Placeboeffekt hinausgehe. Als das Pharma-Unternehmen Hevert, das Globuli und andere homöopathische Mittel herstellt, mit einer Unterlassungsklage gegen Grams vorging, griff Jan Böhmermann den Fall in seiner Sendung Neo Magazin Royale auf und nahm die Homöopathie aufs Korn. Auf Google gelang es Unbekannten daraufhin, die Geschäftsbezeichnung von Hevert kurzzeitig von „Pharmaunternehmen" zu „Süßwarengroßhändler" zu ändern.
Viele Anwender hingegen sehen das anders. Je nach Umfrage glauben bis zu 60 Prozent der Menschen an die heilende Wirkung oder haben homöopathische Therapien bereits ausprobiert. Auch weil sich Homöopathen mehr Zeit nehmen und etwa 60 bis 90 Minuten für ein Erstgespräch planen, fühlen sich einer Studie der University of Edinburgh zufolge die meisten Patienten ernster genommen mit ihren Leiden und auch besser beraten, als wenn der Arzt nach kurzer Zeit schnell ein Antibiotikum verschreibt. Die Homöopathie hingegen soll sanft und nebenwirkungsarm sein. Die Grundidee ist, Ähnliches mit Ähnlichem zu heilen. Als der deutsche Apotheker und Arzt Samuel Hahnemann Ende des 18. Jahrhunderts diesen medizinischen Grundsatz aufstellte, schuf er aus den griechischen Wörtern Homoion (für „ähnlich") und Pathos (für „Leiden") das Wort Homöopathie. Rund 2.500 verschiedene homöopathische Arzneien gibt es heute. Sie werden unter anderem aus Mineralien, Pflanzen, Tieren und Tierprodukten hergestellt. Genau die Kombination von Symptomen, die ein Stoff bei einem gesunden Menschen hervorruft, kann Hahnemann zufolge mit dem homöopathischen Mittel geheilt werden.
Die meisten Studien bestreiten eine Wirkung, die über einen Placebo-Effekt hinausgeht
So wird etwa das Mittel Belladonna aus der Tollkirsche gewonnen. Belladonna ist eine Giftpflanze, die unter anderem Euphorie, rauschartige Zustände, Halluzinationen und vergrößerte Pupillen hervorruft. Eingesetzt wird sie als homöopathisches Mittel bei typischen Entzündungszeichen wie Hitze, Rötung, Schwellung, Schmerz, die zum Beispiel mit vergrößerten Pupillen oder einem Delirium mit Halluzinationen einhergehen. Vorher wird das Mittel aber verdünnt oder potenziert, wie die Homöopathen sagen. Dabei wird beispielsweise der Wirkstoff der Tollkirsche, der als Ausgangsstoff oder auch als sogenannte Urtinktur dient, bei jedem Schritt um ein Zehntel verdünnt, etwa per Hand in Wasser geschüttelt, für Kügelchen mit Zucker vermischt oder verrieben. Je nach Potenzierungsgrad wird also umso mehr verdünnt, zum Beispiel bei D24 (24-mal zehnfach verdünnt) oder C12 (zwölfmal hundertfach verdünnt) also um weit mehr als das Billiardenfache. Viele Wissenschaftler sagen deshalb: Die Menge an vorhandenem Wirkstoff nimmt jedes Mal ab, bis nichts mehr vorhanden ist und schlussfolgern, die Homöopathie kann nicht wirken. Die Homöopathen dagegen argumentieren umgekehrt und glauben, dass mit jeder Verdünnung die Wirksamkeit steigt. Die Idee dahinter: Das Wasser verfügt laut Homöopathen über ein Wassergedächtnis und erinnere sich an die Eigenschaften und Wirkung des eigentlichen Mittels.
Insbesondere in der Wissenschaft wird das Konzept der Homöopathie kontrovers und oft emotional diskutiert. Die meisten Studien bestreiten eine Wirkung, die über einen Placeboeffekt hinausgeht. Dem widersprechen andere Veröffentlichungen, die ihre Wirksamkeit zu belegen scheinen. Deren wissenschaftlicher Wert wird wiederum kritisiert, weil die Richtlinien klinischer Studien nicht eingehalten würden. Befürworter der Homöopathie argumentieren meist, dass sogenannte Beobachtungsstudien für die Wirksamkeit der Homöopathie sprechen. Beobachtungsstudien sind Studien bei denen die untersuchten Bedingungen nicht kontrolliert werden. Oft werden beispielsweise Patienten mit Medikamenten versorgt und es findet ein Vorher-Nachher-Vergleich statt. In kontrollierten klinischen Studien gibt es hingegen immer auch Vergleichsgruppen und andere Störfaktoren, die die Aussagekraft der Studie schwächen könnten, werden ausgeschlossen. Wird für die Wirksamkeit der Homöopathie argumentiert, wird häufig eine Beobachtungsstudie der Berliner Charité, die über acht Jahre hinweg in Praxen von über 100 klassisch homöopathisch arbeitenden Ärzten in Deutschland und der Schweiz durchgeführt wurde, herangezogen. Dabei wurden vor allem Diagnosen wie Kopfschmerzen und Migräne, allergischer Schnupfen, Bluthochdruck, Neurodermitis und Infektanfälligkeit behandelt. Im Schnitt nahmen die Beschwerden um fast die Hälfte ab und die Lebensqualität besserte sich. Wissenschaftler der Technischen Universität München kommen hingegen zu dem Schluss, dass der therapeutische Erfolg der Homöopathie immer dann besonders schlecht ist, wenn die Studien sorgfältig, also kontrolliert, durchgeführt wurden. In einer Großzahl an Studien schreiben Schweizer Wissenschaftler der Universität Bern einen möglichen Therapieerfolg dem Placeboeffekt zu. Viele Krankheiten würden zudem über die Zeit abheilen – ob mit oder ohne Kügelchen.
Patienten jedoch interessieren sich nur bedingt für die wissenschaftlichen Ergebnisse, machen ihre eigenen Erfahrungen und die Nachfrage bleibt groß. Die Umsätze der Branche steigen kontinuierlich. Mehr als 600 Millionen Euro geben Menschen in Deutschland jedes Jahr für homöopathische Mittel wie Arnika-Salbe und Globuli aus. Den weitaus überwiegenden Anteil kaufen sie dabei ohne Rezept und zahlen die Arzneimittel selbst.
Dass homöopathische Leistungen von vielen Krankenkassen grundsätzlich übernommen werden, findet man bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung falsch. „Wer homöopathische Mittel haben möchte, soll sie auch bekommen, aber bitte nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft", sagte der Vorsitzende des Dachverbandes, Andreas Gassen, der „Rheinischen Post". Es gebe keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit homöopathischer Verfahren. Deshalb sollten die gesetzlichen Krankenkassen auch grundsätzlich keine Leistungen der Alternativmedizin finanzieren dürfen, auch nicht als freiwillige Satzungsleistung, solange der Nutzen nicht nachgewiesen sei. Die Kassen sollten ihre Finanzmittel vielmehr in die ambulante Versorgung leiten, „anstatt vor allem aus Marketingzwecken Beitragsgelder für Homöopathie auszugeben".
Gesundheitsminister Jens Spahn möchte die Kügelchen als Kassenleistung erhalten
Die Forderung der Kassenärzte hat auch mit einer Entscheidung Frankreichs zu tun. Dort hat der weltweit größte Hersteller homöopathischer Mittel, das Unternehmen Boiron, seinen Hauptsitz. Die französische Gesundheitsbehörde HAS hatte nach eigenen Angaben neun Monate lang fast 1.200 homöopathische Arzneimittel geprüft und mehr als 1.000 wissenschaftliche Publikationen analysiert. Am Ende kam die Behörde zum Ergebnis, dass eine Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden kann. Die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn ordnete deshalb an, die Übernahme von homöopathischen Mitteln stufenweise prozentual zu senken und bis zum Jahr 2021 komplett auslaufen zu lassen. Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn hingegen will die Homöopathie als Kassenleistung erhalten. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er, dass die gesetzlichen Kassen bei Arznei-Ausgaben von rund 40 Milliarden Euro im Jahr etwa 20 Millionen für Homöopathie zahlten. Darüber könne man emotional diskutieren und dabei viele vor den Kopf stoßen. Oder man könne sich fragen, ob es das angesichts der gesamten Größenordnung wert sei. Er habe sich entschlossen, es sei „so okay". Homöopathie gehört nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen. Viele Kassen erstatten Versicherten homöopathische Behandlungskosten aber aufgrund der hohen Nachfrage. Dies ist auch ein Instrument im Konkurrenzkampf.
Wie groß die Sprengkraft der Kügelchen und die Frage nach ihrer Wirksamkeit mittlerweile geworden sind, zeigt auch die Homöopathie-Kommission der Grünen. Ausgelöst wurde das Ganze durch einen Antrag auf dem Grünen- Parteitag, in dem gefordert wurde, dass die Kassen keine homöopathischen Leistungen mehr übernehmen. Daraufhin wollten die Grünen eine Homöopathie-Kommission einberufen, die Grünen-Vorsitzender Robert Habeck unter seiner Leitung zur Chefsache machen wollte. Doch es kam anders. Nachdem vertrauliche Inhalte an die Medien weitergegeben worden waren, war der Grünen-Vorstand „einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass eine vertrauensvolle und erfolgreiche Arbeit dieser Kommission nicht möglich ist". Die Debatte um die Homöopathie sei von Anfang an durch einen aggressiven und teilweise polemischen Ton beschwert worden, die Parteispitze wolle den Streitpunkt nun selbst regeln. Der Streit um die Homöopathie und die Frage danach, wie wirksam die kleinen Kügelchen tatsächlich sind, wird Politik und Wissenschaft wohl noch länger beschäftigen.