Was genau ist eigentlich Multiple Sklerose (MS)? Welche Ursachen hat diese Erkrankung? Und wie diagnostiziert man sie? Diese Fragen und viele mehr hat uns Prof. Dr. Thomas Müller, einer der führenden Experten in der Diagnostik und Behandlung von Multipler Sklerose und Chefarzt der Klinik für Neurologie des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee, beantwortet.
Herr Prof. Dr. Müller, wie sind Sie dazu gekommen, sich intensiv mit Multipler Sklerose zu beschäftigen?
Während meiner neurologischen Ausbildung hat mich fasziniert, was man bei konsequenter Anwendung der Gabe von einem retardierten, das heißt verlangsamt freigesetztem Kortikosteroid durch Lumbalpunktionen bei chronisch progredienten MS-Patienten erreichen kann. Man kann die maximale Gehstrecke im Durchschnitt verdreifachen und unter Umständen sogar MS-Patienten wieder aus dem Rollstuhl herausholen. Hier in der Klinik für Neurologie im St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee haben wir diese alte, aber immer noch umstrittene Methode perfektioniert. Auch haben meine langjährigen und erfahrenen Mitarbeiter und ich den potenziell neuroregenerativen und damit eventuell kurativen Wirkmechanismus dieser Methode beschrieben. Vor diesem Hintergrund sind wir alle stolz, ein neurorehabilitatives Gesamtkonzept für chronisch progrediente MS-Patienten zusammen mit dem Pflegepersonal, den Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden hier in der Klinik entwickelt zu haben, welches grundsätzlich auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten ist.
Was genau versteht man eigentlich unter Multipler Sklerose?
Die Multiple Sklerose ist eine meist initial schubförmig und dann chronisch langsam fortschreitende, entzündliche Erkrankung des Gehirns und des Rückenmarks mit vielfältigen neurologischen Reiz- und Ausfallserscheinungen. Daher trägt sie auch den Beinamen: die Krankheit der tausend Gesichter.
Welche Ursachen nimmt die Forschung an?
Als Ursache der Erkrankung wird eine Fehlreaktion des körpereigenen Immunsystems mit Angriff von Entzündungs- und Abwehrzellen gegen Nervenbahnen des zentralen Nervensystems angenommen. Als Grund der Fehlreaktion werden Umweltfaktoren, genetische Ursachen, Infektionen und Stoffwechselstörungen diskutiert.
Was genau passiert bei MS im Körper?
Es kommt durch die vermutete Autoimmunreaktion zu Entzündungen an den Nervenbahnen und auch zu Untergängen von Nervenfasern im zentralen Nervensystem.
Welche Symptome kann MS hervorrufen?
Typische Symptome der MS sind Sehnervenentzündungen, Taubheitsgefühle, Störungen des Laufens mit Gangunsicherheit und auch Lähmungen von Muskelgruppen mit Steigerung der Muskelspannung, Blasenstörungen sowie rasche Ermüdbarkeit.
Wie bemerkt man selbst, dass man diese Erkrankung haben könnte, und wann sollte man zum Arzt?
Aus neurologischer Sicht ist die Vorstellung beim Facharzt bei unklaren, über Tage anhaltenden Symptomen, die auf eine Entzündung im zentralen Nervensystem hinweisen können, zu empfehlen. Am häufigsten sind dies zu Anfang der Erkrankung Taubheitsgefühle an Armen oder Beinen, rasche Ermüdbarkeit ohne andere erkennbare Ursachen oder verschwommenes Sehen auf einem Auge.
Wie kann man Multiple Sklerose diagnostizieren? Welche Untersuchungen sind erforderlich, und kann man die Erkrankung dann eindeutig erkennen?
Die Diagnose wird durch die Krankengeschichte, den neurologischen Untersuchungsbefund, elektrophysiologische Untersuchungen der Seh-, Hör- und Gefühlsbahnen, Untersuchungen des Blutes und des Nervenwassers und die Ergebnisse einer kernspintomografischen Untersuchung des Gehirns und der Wirbelsäule gestellt.
Was bedeutet die Diagnose MS? Wie verändert sich das Leben damit?
Da es sich meist um eine chronische Erkrankung handelt, können sich vielfältige Auswirkungen auf den Lebensalltag ergeben. Dies umfasst unter Umständen den Beruf, die Partnerschaft, mögliche Familienplanung und auch den Lebenswandel. Generell sind der Verlauf und die Verarbeitung der Diagnose oft individuell unterschiedlich.
In welchem Alter erkranken die meisten Betroffenen?
Die meisten Betroffenen erkranken meist zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr, aber eigentlich kann die Erkrankung in jedem Lebensalter auftreten.
Welche verschiedenen Verlaufsformen gibt es, und wie unterscheiden sie sich?
Man unterscheidet heutzutage den am Anfang häufigsten schubförmigen Verlauf mit akuter neurologischer Symptomatik mit langsamer, teilweiser oder vollständiger Rückbildung der Symptome und anschließender Ruhepause, den primär chronisch progredienten Verlauf mit langsam schleichend zunehmender neurologischer Symptomatik, sowie den sekundär chronisch progredienten Verlauf, bei dem es nach einer jahrelangen schubförmigen Verlaufsform zu einem langsam fortschreitenden Krankheitsverlauf ohne wesentliche schubförmige Verschlechterungen kommt.
Wie viele Menschen sind ungefähr betroffen?
Die MS ist die mit am häufigsten chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems in Mitteleuropa. In Deutschland wird eine Zahl von 200.000 bis 220.000 Erkrankten vermutet.
Erkranken Männer und Frauen gleichermaßen?
Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer.
Kann MS vererbt werden?
Die Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit. Es wird jedoch eine genetische Veranlagung vermutet.
Gibt es Menschen, die eher dazu tendieren?
Aufgrund der vielfältigen zu vermutenden Ursachen der Erkrankung gibt es keinen typischen Menschen, der eher zu dieser Erkrankung neigt.
Welche Faktoren beeinflussen den Verlauf der Erkrankung positiv, welche negativ?
Positiv wirken sich ein gesunder Lebensstil mit Sport, gesunder Ernährung, frühzeitiger medikamentöser Therapie und psychische Stabilität aus. Negativ wirken sich Rauchen, Übergewicht, Fehlernährung sowie ausgeprägter Stress aus.
Kann man MS mit Ernährung positiv beeinflussen? Wie sollte man sich hier ernähren?
Wissenschaftlich gibt es keinen eindeutigen Beweis, dass die Aufnahme zum Beispiel mehrfach ungesättigter Fettsäuren einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat. Eine ausgewogene und gesunde Ernährung kann meines Erachtens jedoch gerade bei körperlicher Einschränkung Symptome und auch das Wohlbefinden verbessern. Die oft durchgeführte Substitution mit Vitamin D zur Schubprävention sehe ich eher kritisch, da Vitamin D eine ähnliche Struktur wie ein Steroid oder ein Anabolikum hat und damit auch langfristig entsprechende Nebenwirkungen vor allem in der Körperperipherie verursachen kann, insbesondere wenn es deutlich überdosiert wird, wie zum Beispiel im sogenannten „Coimbra"-Protokoll.
Kann man MS heilen?
Eine Heilung der MS ist heutzutage leider immer noch nicht möglich. Was man aber im Gegensatz zu früher jetzt gut behandeln kann, ist die Verhinderung oder die Verringerung der Häufigkeit und Intensität von Schüben. Hier wurden in den letzten 35 Jahren etwa 15 Medikamente untersucht und dann zur Behandlung der MS nach von den Zulassungsbehörden gewünschten, aufwendigen und teuren Studien zugelassen. Zuerst mussten Patienten sich diese Medikamente regelmäßig spritzen, dann wurden Tabletten und Infusionen mit niedrigerer Einnahmehäufigkeit entwickelt. Hier hat sich eine enorm positive Entwicklung in den letzten Jahrzehnten mit jetzt besser verträglichen Therapien ereignet.
Leider versucht man jetzt, diese Medikamente in sogenannten „Leitlinien" zu kategorisieren, wobei die Autoren verkennen, dass MS-Patienten oft sehr gut informiert und damit mündig sind und damit auch genaue Vorstellungen über die Therapiemöglichkeiten haben. Auch zeichnet sich bei der Erstellung von diesen Leitlinien ein negativer Einfluss von „narzisstischen Moralpredigern", wie zum Beispiel die ärztliche Gruppierung Neurology First ab, die sich im Rahmen der Ökonomisierung der Medizin in meinen Augen mit einer gewissen Scheinmoral dem Kostendruck der Krankenkassen unterwerfen.
Bei chronisch progredienten Formen der MS halte ich nach wie vor für die effektivste Therapie die intrathekale Gabe von Triamcinolon, einem retardierten Steroid. Dies zeigt nicht die typischen Nebenwirkungen von Methylprednisolon, welches intravenös zur Behandlung von Schüben in deutlich höherer Dosierung mit den entsprechenden Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Hautveränderungen, Schlafstörungen oder Gewichtszunahme, appliziert wird. Man kann im Rahmen dieser intrathekalen Therapie auch oft die Gabe von Antispastika verringern oder diese sogar absetzen. Diese Medikamente können ein Gefühl der Müdigkeit, das sogenannte Fatigue-Syndrom, oft einhergehend mit einer Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit, erheblich verstärken.
Gehören MS-Erkrankte zur Risiko-gruppe für Corona?
Prinzipiell erkranken MS-Patienten nicht häufiger oder schwerer an Covid-19. Bei starker körperlicher Einschränkung durch die Erkrankung, vorbestehenden Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen kommt es jedoch zu einem erhöhten Risiko eines schweren Covid-19-Krankheitsverlaufes.