70 Prozent aller jungen Mädchen und Frauen wurden schon im Internet beschimpft, beleidigt oder bedroht – zum Teil mit erheblichen Folgen. Was können Politik und Gesellschaft gegen Hatespeech tun, und welche Tipps gibt es für Betroffene?
Er reicht von Beschimpfungen und Demütigungen bis hin zu Stalking und Gewaltandrohungen: Hass im Netz ist für viele junge Frauen und Mädchen Alltag. Die Kinderrechtsorganisation Plan International hat weltweit mehr als 14.000 Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 24 Jahren nach ihren Erfahrungen im Internet befragt. Das Ergebnis: 58 Prozent der Befragten erleben Bedrohungen, Beleidigungen und Diskriminierung in den sozialen Medien. In Deutschland sind es sogar 70 Prozent.
Geringeres Selbstwertgefühl
Und das hat Folgen: 13 Prozent der betroffenen Mädchen geben an, die sozialen Medien weniger zu nutzen, ebenso viele schreiben keine Posts mehr oder verlassen die Plattform (acht Prozent). 42 Prozent, also fast die Hälfte aller Betroffenen, haben dadurch ein geringeres Selbstwertgefühl oder weniger Selbstbewusstsein, genauso viele fühlen sich mental oder emotional gestresst. 24 Prozent der Mädchen fühlen durch Beleidigungen, Herabsetzungen und Bedrohungen sogar Angst, die körperlich spürbar ist. Knapp 20 Prozent der Befragten berichten, sie hätten sich nach solchen Erfahrungen in der Schule verschlechtert und psychische Probleme. „Die Ergebnisse des Mädchenberichts zeigen, wie machtlos sich viele Mädchen und junge Frauen in sozialen Netzwerken fühlen und dass es viel zu wenig Mechanismen gibt, um wirksam gegen Angriffe und Schikane vorzugehen", sagt Maike Röttger, Vorsitzende der Geschäftsführung von Plan International Deutschland. „Mädchen haben das Recht darauf, sich frei und sicher im Netz zu bewegen und sich zu Themen zu positionieren. Aber sie werden viel zu oft mundtot gemacht."
Die Formen der Belästigung, die die befragten Mädchen und jungen Frauen entweder persönlich oder im Umfeld von Freundinnen erfuhren, sind Beschimpfungen und Beleidigungen, sexuelle Belästigung, persönliche Demütigung, Bodyshaming, rassistische Kommentare, Stalking, Kommentare gegen die sexuelle Orientierung, Anti-LGBTIQ+ sowie die Androhung physischer Gewalt. Besondersy häufig erleben Mädchen solche Übergriffe weltweit gesehen auf Facebook (39 Prozent), Instagram (23 Prozent) und Youtube (zehn Prozent). Schaut man auf Deutschland, sieht das etwas anders aus. Hier liegt Instagram als Plattform mit den meisten Angriffen (45 Prozent) vor Facebook (35 Prozent) und Youtube (zehn Prozent).
Angesichts der Corona-Krise, in der viele junge Frauen und Mädchen einen zunehmenden Teil ihres Lebens online verbringen, sei es höchste Zeit, dass digitale Plattformen ihre Nutzerinnen besser schützen, fordert Maike Röttger. „Es ist unverantwortlich, dass die Betroffenen mit Online-Gewalt allein gelassen werden. Diese Angriffe haben in vielen Fällen tiefgreifende Folgen für ihr Selbstvertrauen und damit auf ihr gesamtes Leben." Die Kinderrechtsorganisation fordert außerdem, dass Meldemechanismen auf den Plattformen im Netz so optimiert werden, dass die Täter besser zur Rechenschaft gezogen werden können.
Ab wann ist etwas strafbar?
Dass mehr getan werden muss im Kampf gegen den Hass im Netz und seine teils schwerwiegenden Folgen, hat auch die Politik erkannt. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat dies zu einem zentralen Projekt erklärt. Am 18. Juni hat der Bundestag ein Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität beschlossen. Seit Monaten aber liegt das Hate-Speech-Gesetz bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Aufgrund von verfassungsrechtlichen Zweifeln hat er entschieden, dass die große Koalition nachbessern soll. Der Hintergrund: Das Gesetzespaket enthält erstmals eine Anzeigepflicht für die Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter. Sie müssen rechtswidrige Posts an das Bundeskriminalamt melden. Weil damit aber der Abruf sogenannter Bestandsdaten verbunden wäre, also etwa Name, Anschrift und Geburtsdatum, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht scheitern würde. Die Grünen-Politikerin Renate Künast kritisierte, dass wegen eines handwerklich schlecht gemachten Gesetzes nun die effektive Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus weiter verzögert werde. „Das hätte man besser machen können und müssen", sagte sie gegenüber der „Süddeutschen Zeitung". Die Grünen haben daher ein zweistufiges Verfahren vorgeschlagen, bei dem die sozialen Netzwerke zunächst nur den mutmaßlich rechtswidrigen Post ans BKA übermitteln, das dann – sofern es einen Anfangsverdacht bejaht – die Daten abrufen kann.
Ab wann aber etwas strafbar ist, ist nicht ganz so einfach zu bestimmen. Wenn Menschen abgewertet, angegriffen oder wenn gegen sie zu Hass oder Gewalt aufgerufen wird, spricht man von Hatespeech. Das können zum Beispiel rassistische, antisemitische oder sexistische Kommentare sein, die bestimmte Menschen oder Gruppen als Zielscheibe haben. Zum Teil kommt der Hass im Netz von sogenannten Trollen, also von Menschen, die angestellt und bezahlt werden, um gezielt Kommunikation zu stören oder bestimmte Inhalte zu verbreiten. Dahinter stehen meistens Auftraggeber, die auf diese Art ihre Ideologien an die User bringen wollen. Das Problem: Solche Kommentare befinden sich häufig in einer Grauzone, welche sowohl strafbare als auch nicht strafbare Ausdrucksweisen einschließt. Grundsätzlich gilt in Deutschland das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Das findet seine Grenzen aber immer dort, wo die Menschenwürde angegriffen wird. Straftatbestände, die beispielsweise erfüllt sein können, sind Volksverhetzung, Beleidigung, Verleumdung, Nötigung, Bedrohung oder öffentliche Aufforderung zu Straftaten. Sie gelten auch für Kinder und Jugendliche ab 14 Jahren.
Wem solch ein Kommentar auffällt, der kann ihn melden. In der Studie von Plan International haben das 52 Prozent der jungen Frauen und Mädchen aus Deutschland getan. Damit liegt Deutschland 17 Prozent über dem globalen Durchschnitt. Die zentrale Meldestelle für Hatespeech in Deutschland heißt Hassmelden. User finden sie im Netz unter www.hassmelden.de und können dort eine URL zum Beitrag einfügen. Bei der Meldestelle prüfen dann ehrenamtliche Mitarbeiter die Inhalte. Sind diese strafrechtlich relevant, werden sie bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main angezeigt. Dabei bleiben diejenigen, die Hass gemeldet haben, sicher und anonym gegenüber Behörden und Tätern. Die Meldestelle können alle nutzen – unabhängig vom Wohnort oder der Art der strafrechtlichen Delikte. Bislang haben dort etwa 32.000 Nutzer mehr als 90.000 Inhalte gemeldet, von denen 26.000 auch angezeigt worden sind.
Aber auch darüber hinaus können Betroffene Unterstützung und Hilfsangebote finden. Die Ratgeber-Plattform Hate Aid etwa bietet Betroffenen eine erste Anlaufstelle. Die Organisation begleitet Opfer von Hatespeech kostenlos und stellt ihnen unter anderem eine Erstberatung zur Verfügung. In schwerwiegenden Fällen werden auch Therapeuten oder Anwälte hinzugezogen. Hate Aid möchte gegen potenzielle Täterinnen und Täter vorgehen und übernimmt auch Gerichtskosten, um Betroffenen die Angst vor einem finanziellen Eigenrisiko zu nehmen. Finanziert wird die gemeinnützige Organisation unter dem Dach der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin durch Spenden. Der Pianist Igor Levit beispielsweise hat Ende 2019 ein Preisgeld über 10.000 Euro an die Organisation gespendet. Neben ganz konkreter Hilfe können Betroffene dort auch Tipps finden, wie sie mit digitaler Gewalt umgehen können. Zur Prävention finden sich beispielsweise Ratschläge, zur bewussten Gestaltung der Privatsphäre im Netz aber auch zu Passwort- und Datensicherheit. Kommt es zu einem akuten Notfall, wird zum Beispiel empfohlen, Passwörter zu ändern, Drohungen zu dokumentieren und zu melden und nicht alleine zu sein.
Die Betroffenen nicht alleine lassen, aber auch die nicht, die helfen wollen – das war auch der Gedanke von Björn Kunter, der die App Love Storm entwickelt hat. Mit der App kann man per Meldeformular geschulte Helfer schnell alarmieren, die den Angegriffenen oder auch denen, die den Hass nicht unkommentiert lassen wollen, zur Seite stehen. Das Ziel: der Welle aus Hass, Herabwürdigungen und Beleidigungen im Internet soll eine Bewegung der digitalen Zivilcourage entgegengesetzt werden. Deshalb bietet Love Storm auch Online-Trainings, Lernressourcen und eine Community zum Austausch an. Ebenso gibt es Fortbildungsangebote für Lehrer, Schulsozialarbeiter, Trainer und andere Bildungsarbeiter in der Jugend-, Sozial- und Gewaltpräventionsarbeit. Für Björn Kunter ist das nicht der erste Einsatz dieser Art. Er engagiert sich seit den 90er-Jahren als Trainer für Zivilcourage und gewaltfreie Bewegungen weltweit. Unter anderem entwickelte er das Konzept der „Aktiv gegen Rechts"-Großtrainings und förderte als Geschäftsführer des Bundes für Soziale Verteidigung die Verbreitung des No-Blame-Approaches gegen Mobbing. Mit Love Storm will er vor allem dazu beitragen, das Schweigen des Umfeldes zu brechen und die Angegriffenen zu stärken.
Auch in Zukunft ein wichtiges Thema
Ähnliche Ziele verfolgt auch das No-Hate-Speech-Movement, das aus einer Jugendkampagne des Europarates, die 2012 gestartet ist und sich gegen Hass, Rassismus und Diskriminierung im digitalen Raum wendet, entstanden ist. Im Jahr 2016 wurde ein deutscher Knotenpunkt unter www.no-hate-speech.de eingerichtet. Dort finden Interessierte jede Menge Wissenswertes zum Thema Hatespeech, aber auch Memes, Gifs, Videos und Sprüche, die man downloaden und mit denen man kontern kann. „Hetze im Netz ist keine Naturgewalt. Jede*r kann etwas dagegen tun", heißt es dort. Die deutsche No-Hate-Speech-Bewegung wird von den Neuen Deutschen Medienmachern koordiniert. Sie bieten auf ihrer Website www.neuemedienmacher.de zum Beispiel auch ein Helpdesk, der konkrete Hilfe beim Umgang mit Hass im Netz bietet. Dabei geht es sowohl darum, wie man Hatespeech vorbeugen und sich schützen kann, wer einem helfen kann, aber auch wie man konkret und wirksam reagieren kann. Empfohlen wird etwa, die schweigende Mehrheit zu adressieren, sachlich präzise zu sein und Haltung zu zeigen. Aber auch, sich nicht in Endlos-Diskussionen zu verstricken und nach maximal vier guten Argumenten aus der Unterhaltung auszusteigen.
Hatespeech im Netz wird auch in Zukunft ein Thema bleiben, das Politik, Gesellschaft und Betroffene umtreiben wird. Zahlreiche Initiativen aber zeigen auch: Jeder kann etwas tun, um den Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen.